Das Spiel mit der Abweichung
Überlegungen zum Verhältnis von digitalen Spielwelten, Figuren, Spieler:innen und Devianz in Einzelspieler:innenspielen
DOI:
https://doi.org/10.15460/kommges.2022.23.1.933Schlagworte:
Spiel, digitales Spiel, Devianz, Konformität, Kriminalität, Postapokalypse, Lebenswelt, künstliche Welten, Spielkultur, MedienkulturRedaktion und Begutachtung
Abstract
Der vorliegende Aufsatz untersucht populäre digitale Einzelspieler:innenspiele beziehungsweise deren Spielwelten und Figuren als für die Populärkultur relevante Artefakte der Verhandlung von Devianz und Konformität aus einer erzähl- und handlungstheoretischen Perspektive. Mit postapokalyptischen sowie kriminellen Settings werden zwei markante Ausprägungen devianter Spielwelten untersucht, die für das Verhältnis zwischen Devianz und Konformität in der populären digitalen Medienkultur aufschlussreich sind.
1 Einleitung und methodische Vorbemerkungen
Digitale Online-Spiele haben seit einigen Jahren einen enormen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg sowie der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz digitaler Spiele. Innerhalb dieses weiten Feldes mit seinen zahlreichen Genres nimmt das Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG) mit Vertretern wie World of Warcraft eine wichtige Stellung ein.1 Durch den Rollenspielcharakter sind MMORPGs geeignete ‚Orte’ für Spieler:innen, um sich in neuen Rollen jenseits der in der eigenen Lebenswelt zur Verfügung stehenden auszuprobieren.2 Somit sind MMORPGs ein naheliegender Untersuchungsgegenstand für die kultur- und sozialwissenschaftlich orientierte digitale Spielforschung in Hinblick auf das Ausagieren von – von der Lebenswelt abweichenden – Rollen. Allerdings lässt sich die Frage aufwerfen, inwiefern sich die angelegten Rollen von den Spieler:innen wirklich ‚frei’ ausagieren beziehungsweise neu konfigurieren lassen und welche Erkenntnispotenziale mit der empirischen Beobachtung von konkreten Handlungen von Spieler:innen im Kontext der Devianz in diesen digitalen Spielen verbunden sind. Dieser Text möchte einen alternativen Ansatz vorschlagen und sich dem Ausagieren von devianten Rollen aus Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Analyse im Sinne einer hermeneutischen Betrachtung von Devianz und Konformität als Inhalt populärer digitaler Spiele zuwenden. Die Untersuchung erfolgt dabei aus dem Blickwinkel einer ‚textzentrierten’ Analyse und fokussiert sich auf in der Medien- und Spielkultur populäre digitale Einzelspieler:innenspiele.
Diese scheinen bezüglich des vorliegenden Erkenntnisinteresses besonders prädestiniert zu sein, da sie neben den für Spielen konstitutiven Handlungen oftmals narrative Spielelemente wie Erzählung, Diegese oder narrative Charaktere beinhalten. Gerade die narrativen Figurenkonzeptionen der Charaktere bieten detailliert angelegte Rollen, die Spieler:innen anhalten können, in der Spielwelt gemäß dieser zu handeln (Rauscher, 2015). Die Analyse wird sich deshalb vornehmlich auf die Figuren als Zusammenspiel von narrativem Charakter wie ludischer Spielfigur konzentrieren und deshalb erzähl- und handlungstheoretische Zugänge wählen. Dennoch wird der primäre Fokus auf den narrativen und darstellenden Elementen liegen und für Spiele konstitutive Elemente wie Spielmechaniken und Spielregeln werden eher nachrangig behandelt. Damit wird das Spielen als deviante Praktik selbst im Folgenden keine große Rolle spielen; es wird aus heuristischen Erwägungen ausgeblendet, obwohl es bereits seit den Anfängen der kulturwissenschaftlichen Spielwissenschaft von Bedeutung ist (Caillois, 2017). Insofern stehen die folgenden Betrachtungen qualitativen Inhaltsanalysen, wenn auch in knapper Form, nahe (Mayring, 2015). Entscheidend ist hierbei die Zusammenstellung des Korpus. Für die Gewinnung möglichst aussagekräftiger Ergebnisse erscheint es zielführend, sich an paradigmatischen Einzelspieler:innenspielproduktionen auszurichten, wobei ein verlässliches Maß für die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter digitaler Spiele nicht existiert. Als Behelf soll auf wirtschaftlich erfolgreiche AAA-Spiele zurückgegriffen werden, da davon ausgegangen wird, dass sich deren populärer Status in einem entsprechend hohen Absatz an Spielausgaben niederschlägt. Erfolgreiche digitale Einzelspieler:innenspiele werden demzufolge als paradigmatisch für die Verhandlung von Devianz und Konformität in digitalen Spielen als medienkulturelle Artefakte mit populären Themen angesehen. Als besonders relevant erscheinen in diesem Kontext digitale Spiele, die diese Themen narrativ intensiv aufgreifen.
Deviante digitale Spiele sind häufig durch Spielwelten gekennzeichnet, die in einem deutlichen Kontrast zur gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Lebenswelt stehen. Sie gestehen Spieler:innen beziehungsweise deren Avataren in der Regel eine Agency beziehungsweise Handlungsmacht zu (Matuszkiewicz, 2016), die sich moralisch und ethisch von der Gesellschaft sowie physikalisch von der außerspielerischen Realität unterscheidet und sich auch ludisch manifestiert. Deviante Spielfiguren in diesem Sinne sind auserwählte Heroen oder Kriminelle, deren Devianz sich in ihrer narrativen Konzeption wie ludischen Anlage widerspiegelt. Da Handlungen von Spieler:innen nicht konkret betrachtet werden sollen, wird im Folgenden handlungsbezogen auf Grundlage des aus der Designtheorie stammenden ‚Möglichkeitsraumes’ argumentiert (Salen & Zimmerman, 2004), um die ludische Dimension digitaler Spiele berücksichtigen zu können. Dieser Möglichkeitsraum bezeichnet die Gesamtheit aller möglichen (zukünftigen) Handlungen, die sich aus den designten Strukturen und Kontexten ergeben können und erlaubt es somit, die Avatare der untersuchten digitalen Spiele methodisch angemessen zu betrachten. So wird es möglich, deviante Spielwelten mit devianten Figuren und devianten Verhaltensweisen analysieren zu können, die einer konformistischen Lebenswelt entgegenstehen. Der Avatar fungiert dabei einerseits als Schnittstelle zwischen Spiel und Spieler:in und symbolisiert andererseits innerhalb der untersuchten digitalen Spiele das Wechselspiel zwischen sozial Agierendem und sozialer Struktur, das das zugrundeliegende Verständnis von Agency maßgeblich prägt (Schimank, 2010).
Für die folgende Analyse wurden zwei verschiedene Typen devianter Spielwelten mit der Postapokalypse sowie den kriminellen Milieus ausgewählt, die als paradigmatisch für die gegenwärtige digitale Spielkultur betrachtet werden können. Um die ausgestellten Zielsetzungen erreichen zu können, wird in den folgenden Kapiteln das Verhältnis zwischen Konformität und Spiel (Abschnitt 2) sowie zwischen Devianz und Spiel (Abschnitt 3) in den Blick genommen, ehe die Analysen3 der skizzierten Typen devianter digitaler Spiel(-welten) erfolgen können (Abschnitte 4 und 5). Abgeschlossen wird der Text von einem Fazit mit ausblickendem Charakter (Abschnitt 6).
2 Konformität und Spiel
Konformität ist eine notwendige Voraussetzung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, denn nur wenn wir gemeinsame Normen, Werte sowie Standards teilen und achten, können wir als Gesellschaft existieren. Jedoch ist Konformität keinesfalls durchweg unkritisch zu sehen, ihre Schattenseiten treten beispielsweise zutage, wenn der Konformitätsdruck derart steigt, dass er zum Gruppenzwang wird. Der Psychologe Solomon Asch hat dieses Phänomen bereits in den 1950er-Jahren in einem bekannten Experiment untersucht (Asch, 1951). Ferner kann Konformität, wenn ihre Einhaltung zur obersten Handlungsmaxime wird, gesellschaftlich lähmend wirken, wie die Soziologin Cornelia Koppetsch mit Blick auf die aktuelle Generation junger Erwachsener ausstellt:
Sie gilt als brav, angepasst, unpolitisch und vor allem als konservativ. Aber auch sozialwissenschaftliche Studien bescheinigen den jungen Erwachsenen von heute eine eher angepasste Haltung. Repräsentative Untersuchungen wie die „Spiegel"-Umfrage 2009, die Einstellungen und Orientierungen der 25- und 30-Jährigen ermittelte, und die Shell-Studie, die in Abständen von vier Jahren jeweils 2500 Jugendliche in Deutschland befragt, zeichnen das Portrait einer pragmatischen Generation, die sich in Arbeit und Beruf auf die eigene Person konzentriert, sich von politischen Gesellschaftsentwürfen abwendet und sich aus dem öffentlichen Leben zurückzieht (Koppetsch, 2014).
Dergestalt zeichnet sich das Bild einer angepassten Generation, die gesellschaftlich konform geht, um sich jenseits der Gesellschaft, ergo individuell oder in eigens gewählten Gemeinschaften, selbst zu verwirklichen. Stellt sich mittlerweile vor dem Hintergrund von Bewegungen wie Fridays for Future aber nicht doch die Frage, ob derartigen Einschätzungen ohne weiteres zu folgen ist, oder ob es nicht vielmehr gilt, dem devianten Potenzial der jüngeren Generationen differenzierter nachzuspüren und dabei ‚unkonventionellere’ Zugänge zu wählen? Die Frage wäre dann, wie sich jüngere soziale Akteur:innen zum beschriebenen Konformismus verhalten? Eine mögliche Verhaltensweise ist dabei der Eskapismus, die (temporäre) Herauslösung des Individuums aus dem Kollektiv. Eine Möglichkeit, dies zu tun, wie aktuelle Erhebungen zeigen, liegt anscheinend im Spielen digitaler Spiele. Seit Jahren wächst die digitale Spielbranche zwar stetig und gehörte bereits vor Beginn der Corona-Pandemie zu den dominierenden Akteuren der Unterhaltungsindustrie,4 erreichte in einer Zeit, in der wir besonders vehement zu konformen Handlungen und Verhaltensweisen aufgefordert sind, um das Infektionsgeschehen einzudämmen, aber neue Höchstwerte.5
Den Wunsch nach Eskapismus, nach Selbstentfaltung des Individuums hat schon Friedrich Schiller in seiner prominenten Sentenz festgehalten: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Schiller, 1795). Das hiermit artikulierte Menschenbild des Homo ludens rückt der niederländische Historiker Johan Huizinga ins Zentrum seines gleichnamigen Werks und stellt mit Blick auf seine einflussreiche Definition des Spiels u. a. fest, dass das Spiel als „außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden“ werde (Huizinga, 2011). Hierbei ist nicht nur entscheidend, dass das Spiel hierdurch – dem Ritual nicht unähnlich – neue Räume etabliert (Turner, 2005), sondern dass diese Räume, auch wenn sie nur temporär bestehen, die sie bevölkernden Gemeinschaften sozial (um-)prägen. Das bedeutet, dass (digitale) Spiele Räume beziehungsweise Spielwelten konstituieren können, deren soziale Beschaffenheit derart von der gesellschaftlichen Realität abweicht, dass sie als deviant zu bezeichnen sind und hiermit interessant für Spieler:innen werden, die ebendies in Medien der Populärkultur suchen. Bestimmte Typen von Spielwelten besitzen, wie weiter unten auszuführen sein wird, hierfür eine besondere Eignung.
3 Devianz und Spiel
Unter Devianz wird in der Soziologie und der Psychologie ein normabweichendes Verhalten verstanden, ergo ein Handeln, das definierte gesellschaftliche Regeln verletzt. In der neueren Forschung rückt dabei der Akt der Normierung beziehungsweise Regelsetzung in den Vordergrund, das heißt Devianz wird primär als eine Zuschreibung durch andere betrachtet (Peters, 2009). Hierdurch lassen sich die beteiligten Akteur:innen dieses Wechselverhältnisses zwischen Konformität und Devianz in mehrere Gruppen unterteilen – und zwar wenigstens in jene, die als deviant angesehen werden und diejenigen, die gesellschaftliche Normen bestimmen und hierdurch auch definieren, was als deviant zu gelten hat. Die soziale Welt, in der diese Wechselbeziehung angesiedelt ist, trägt dramatische Züge, weshalb der Soziologe Erving Goffman sie mit dem Theater vergleicht, um ein Analysemodell zu schaffen (Goffman, 2019). Nach Goffman geht diese dramatische Inszenierung der beteiligten sozialen Akteur:innen derart weit, dass Menschen immer Theater spielen, immer in Rollen handeln und diese ausagieren. Teilt man diese Einschätzung, so hat dies weitreichende Folgen für performative Medien wie digitale Spiele.
Für Untersuchungen, die sich mit der Verhandlung von Devianz in der digitalen Medienkultur befassen, scheinen nämlich besonders jene Medien der Populärkultur interessant zu sein, die – ontologisch gesehen – performative Anlagen umfassen, sodass diese ästhetisch auch in (potenziellen) Handlungen ausagiert werden können. Dies betrifft Spiele im Allgemeinen wie digitale Spiele als Hybridisierung von Spiel und digitalem Medium im Besonderen. Einzelspieler:innenspiele mit narrativen Spielelementen bieten hierbei weitreichende ‚narrative Rezeptionsangebote’ (Engelns, 2014), da sie eine Erzählung, eine erzählte Welt sowie narrative Charaktere bieten, die – durch ihren thematischen Bezug – unmittelbar das Verhältnis zwischen Devianz und Konformität verhandeln. Dies betrifft die narrativen und ludischen Anlagen hybrider digitaler Spiele, kann sich darüber hinaus aber auch im Spielen als konkreter Handlung selbst manifestieren (was im Folgenden nicht weiter betrachtet werden kann). So ist es denkbar, dass Spieler:innen gemäß der Anlagen eines Spiels handeln, es ist aber auch das Gegenteil vorstellbar. In diesem Fall hat man es mit einer Form widerständigen Spielens zu tun, ergo eines Spielens, das bewusst die Anlagen des Spiels unterläuft. Insbesondere Open-World- beziehungsweise Sandbox-Games können diese Form des Spielens aufgrund ihrer räumlichen Spezifik, die den Möglichkeitsraum vergrößert und die Kombination unterschiedlicher Spielmechaniken erlaubt, befördern. Dabei handeln Spieler:innen auf nicht-intendierte Art und Weise, spielen entgegen der Anlagen von Ludus und Narrativ (Caillois, 2017). So wird es paradoxerweise möglich, in einer devianten Spielwelt wie Grand Theft Auto: San Andreas deviant zu handeln,6 indem man sich konformistisch zur Lebenswelt verhält, ergo nicht die Laufbahn eines Kriminellen einschlägt, sondern als Taxifahrer:in den Lebensunterhalt bestreitet, obwohl derartige berufliche Betätigungen im Vergleich zu kriminellen Betätigungsfeldern weitaus weniger lukrativ und auch monotoner sind.7
4 In postapokalyptischen Spielwelten
Der wirtschaftliche Erfolg, positive bis überschwängliche spielkritische Bewertungen und ein virulentes Zirkulieren in sozialen Medien bezeugen den gegenwärtigen Status postapokalyptischer digitaler Spielwelten innerhalb der digitalen Spiel- und Medienkultur.8 Spiele wie Horizon Zero Dawn, The Legend of Zelda: Breath of the Wild (BotW), The Last of Us 2 oder Death Stranding stehen für diese Art devianter Spielwelten Pate.9 Oftmals werden in diesen postapokalyptischen digitalen Spielwelten zukünftige Szenarien entworfen, die jedoch unterschiedliche Stoßrichtungen sowie Motivationen haben. Im Kontext unserer Erkenntnisinteressen fällt unmittelbar auf, dass all diese Spielwelten und die sie bewohnenden Figuren zwar aus einer extradiegetischen Perspektive als deviant zu klassifizieren sind, im Rahmen ihrer diegetischen Logiken sind sie dies jedoch nicht zwingend (Genette, 1998). Ausschlaggebend hierfür ist, wie der Status der Erzähl- und damit auch der Spielwelt von den Figuren und damit auch von den Spieler:innen wahrgenommen wird. Death Stranding und BotW stellen Dystopien dar, in denen die Figuren versuchen, den bei Erzähl- und Spielbeginn vorherrschenden Zustand zu verbessern (mit der Vereinigung der United Cities of America (UCA) in Death Stranding und der Überwindung der Verheerung als Personifikation des dämonisch Bösen in BotW als angestrebten Zielen), indem sie die Herbeiführung eines Zustandes der Spielwelt verfolgen, der (weit) vor Spiel- und Erzählbeginn vorherrschte. Horizon und The Last of Us 2 hingegen offerieren eine Spielwelt, in der sich die Figuren mit dem status quo (stammesartige Gebilde in Horizon und Mikrostaaten in The Last of Us 2) abgefunden haben und nicht versuchen, zu einem ‚Urzustand’ zurückzugehen (mit Ausnahme der Fireflies in The Last of Us).10
Der Zustand dieser beiden Spielwelten, der im Zuge der von Christopher Vogler in der Medienkultur popularisierten ‚Heldenreise’ in der Regel wiederhergestellt werden soll (Matuszkiewicz, 2019; Vogler, 2010), ist aus extradiegetischer Sicht zwar ein gestörter, Horizon und The Last of Us 2 unterscheiden sich von den zwei vorgenannten Beispielen aber gerade dadurch, dass der Zustand der Spielwelt und damit der Diegese von den Figuren nicht als Dystopie wahrgenommen wird.11 Die für die Heldenreise erzählstrukturell charakteristische Störung des Gleichgewichts der Welt, die (weit) vor Erzählbeginn einsetzt, hat dementsprechend keine globalen Ausmaße, es soll lediglich der Weltzustand zu Erzählbeginn wiederhergestellt werden und nicht jener, der vor diesem herrschte. Die Avatare und deren Absichten in Horizon und The Last of Us 2 sind somit im Hinblick auf die eigentliche Bewahrung des Ausgangszustandes konservativ und nicht progressiv. Sie verhalten sich konform zu den intradiegetisch naheliegenden Erwartungen. Im Unterschied dazu sind die Avatare in Death Stranding und BotW fortschrittlicher, da sie versuchen, den Zustand vor Erzählbeginn wiederherzustellen.
Verlässt man jedoch die Ebene der intradiegetischen Logik und betrachtet die Figuren-Welt-Relation aus extradiegetischer Sicht, so verkehrt sich dieses Verhältnis. Denn Link (Protagonist von BotW) kämpft in BotW de facto für die Wiedereinsetzung der absolutistischen Monarchie und Sam (Protagonist von Death Stranding) hilft, wenn auch widerwillig, in Death Stranding maßgeblich bei der Herstellung eines Derivats des vorangegangenen politischen Systems (die UCA fungieren in dieser Hinsicht als Reaktualisierung der USA), auch wenn er dessen Verstrickungen in die apokalyptische Katastrophe kaum kennt und versteht. Aloy (Protagonistin von Horizon) und Ellie (Protagonistin von The Last of Us 2) hingegen lassen sich als Heldinnen nicht vorrangig durch systemische Umstände motivieren, sondern handeln aus eigenen Motivationen heraus (Ergründen der eigenen Herkunft bei Aloy, Rache für die getötete Vaterfigur Joel bei Ellie), wohingegen Link und Sam als Helden primär Erfüllungsgehilfen eines systemisch Größeren sind. Für Link und Sam liegt die Zielerreichung somit in einem kollektiven, systemischen Schlusspunkt, wohingegen Aloy und Ellie nach Selbsterfüllung streben, wenn auch mit streitbarem Erfolg. Positiv aufgeladen werden die Spielwelten von Horizon und The Last of Us 2 ferner durch den naturbezogenen Lebensentwurf der Avatare, der deren (Zusammen-)Leben als natürliche Ordnung darstellt, die im Kontrast zu techniklastigen Gesellschaftsentwürfen wie in Death Stranding stehen, das die Natur als tödliche Gefahr behandelt und nur die Technik als einzige Option des Überlebens erscheinen lässt. BotW stellt die Technisierung im Unterschied zu Death Stranding zwar nicht als Lösung, sondern als Teil des Problems dar, konterkariert die scheinbar natürliche Lebenswelt aber dadurch, dass die einzige Möglichkeit zur Rettung vor der dämonischen Veheerung in technokulturellen Errungenschaften zu finden ist.
Alle vier Avatare werden durch ihre narrative Figurenkonzeption intradiegetisch exponiert , da sie sich durch ihre einzigartigen Fähigkeiten von anderen Figuren innerhalb der Diegese unterscheiden. Aloy ist ein genetisches Duplikat der längst verstorbenen Wissenschaftlerin Elisabet Sobeck und kann daher als Einzige deren Technologie nutzen und Ellie ist als einzige Figur gegen die die Apokalypse auslösenden Sporen immun. Sam ist unsterblich, wird nach einem Ableben stets ins Lebens zurückgeholt und Link ist der auserwählte Heros, das Erlösungsindividuum per se . Hierdurch werden die Avatare narrativ innerhalb der Diegese als einzigartig und damit als deviant markiert. Diese auch extradiegetisch wahrnehmbare Devianz von Avatar und Spielwelt wird durch die Diegese erzeugt, die diese speziellen Fähigkeiten der Figuren an die apokalyptischen Geschehnisse zurückbindet. Anders gesagt: eine im systemischen Gleichgewicht gestörte Erzählwelt produziert deviante Avatare und Figuren. In Bezug auf die Agency sind die vier Figuren als Avatare, als Schnittstelle zwischen Spielwelt und Spieler:innen, per definitionem deviant, da ihre dominante Stellung innerhalb der Spielwelt in Spielmechaniken und Spielregeln eingeschrieben ist und nur ihnen zusteht. Diese spielmechanisch bedingte Devianz des Avatars wird in den genannten Spielen narrativ durch deren auserwählten Status unterstrichen und kann durch eine Verzahnung zwischen narrativer und ludischer Struktur betont werden. So kann nur Link das – spielerisch betrachtet – vielleicht beste Schwert als an Artus angelehnte Figur führen und Sams Unsterblichkeit korrespondiert mit dem stets erneuten Respawn des Avatars nach dessen Tod. Aloys Existenz als genetisches Duplikat öffnet neue Bereiche der Spielwelt und Ellies Immunität lässt sie bestimmte Areale der Spielwelt ohne schützende Atemmaske betreten. So lässt sich Devianz in hybriden digitalen Spielen als Zusammenspiel aus Erzählung und Handeln begreifen, das die Machtfülle auserwählter Held:innen in postapokalyptischen Spielwelten unterstreicht.
5 In kriminellen Milieus
Ähnlich wie die postapokalyptischen Spielwelten die digitale Spiel- und Medienkultur in den vergangenen Jahren (mit-)bestimmten, gilt dies auch für digitale Spiele, deren Settings in kriminellen Milieus angesiedelt sind. Paradigmatisch sind diesbezüglich Titel wie Grand Theft Auto V (GTA V) oder Red Dead Redemption 2 (RDR2) und deren populäre Online-Ableger.12 Diese Spiele handeln narrativ zumeist von gesellschaftlichen Außenseitern, deren ökonomische Umstände oftmals ebenfalls schwierig sind. Die Avatare stehen innerhalb der Spielwelt in einem Konflikt mit einem politischen und gesellschaftlichen System, das ihnen einen (legalen) Aufstieg kaum zu gewähren scheint, sondern das zum Verharren an der zugeschriebenen Stelle im System auffordert. Dementsprechend erscheint ein Aufstieg innerhalb des Systems nur dann möglich, wenn sich die Avatare gegen eben jenes wenden, wenn sie deviant handeln. Wo sich postapokalyptische Spielwelten der Dystopie bedienen, so richten sich die Lebenswürfe der kriminellen Figuren an utopischen Vorstellungen aus.
In GTA V schimmert dies in Form des American Dreams auf beziehungsweise einer kriminalisierten Variante dessen, die in Grand Theft Auto IV noch deutlicher als Ziel des Strebens der Bellic-Cousins (Protagonisten des Spiels) ausgestellt war und das mit einem Pyrrhussieg symbolträchtig zu Füßen der Freiheitsstatue endete (Matuszkiewicz, 2015).13 Das Motiv der kleinen verschworenen Gemeinschaft wird im Westernspiel RDR2 in Form der Van Der Linde-Bande noch stärker zentralisiert, da deren Handlungen einerseits die Erzählung vorantreiben und andererseits für den Zugang zu den verschiedenen Arealen der Spielwelt sowie die Gestaltung der Heimstätte des Avatars spielerisch entscheidend sind. Die Raubzüge, die die Bande begeht, werden, auch wenn die Figuren narrativ als Kriminelle dargestellt und spielerisch wie solche durch das Kopfgeldsystem verfolgt werden, als eigentlich deviante Eingriffe in eine sonst scheinbar sozial intakte Spielwelt durch den Wunsch legitimiert, ihr eigenes Utopia erreichen zu wollen. Dieses liegt ‚im Westen’ als ewiger Sehnsuchtspunkt, der, insbesondere geografisch, immer weiter in die Ferne rückt, umso mehr die Figuren versuchen, ihn zu erreichen.14 Immer wieder möchten die Figuren durch Verbrechen das benötigte Kapital für den Neubeginn am ersehnten Ziel sammeln, doch immer wieder stehen dem Rückschläge entgegen, reicht das Geld nie aus, wie auch Sisyphos die Kugel letztlich doch stets erneut entgleitet. Die Van Der Linde-Bande versucht der Zivilisation zu entkommen, die insbesondere durch die Industrialisierung, die Nutzbarmachung vormals natürlicher Räume negativ dargestellt wird. Demgegenüber trägt die Utopie der Bande deutliche Züge einer natürlichen Ordnung, wird Gemeinschaft ähnlich wie ein Stamm organisiert. Auch hier wird der Konflikt zwischen Natur und Kultur resp. deren Repräsentanten deutlich, wenn die Figuren erkennen, dass sie an einer epochalen Schwelle stehen, an der sich entscheidet, in welche Richtung sich die Welt zukünftig entwickelt. Wird sie eine stammesartige Utopie oder eine industrialisiert-technisierte Dystopie?
Der technische Fortschritt ist letztlich nicht aufzuhalten und jene, die das stammesartige gemeinschaftliche Leben bevorzugen, sich übergreifenden gesellschaftlichen Ordnungen entziehen wollen, müssen in jene Räume ausweichen, die noch übrig geblieben sind. Das ist im Spiel der (noch) wirtschaftlich weitestgehend wertlose und damit zivilisatorisch belanglose Westen. Anders gesagt: das politische und gesellschaftliche System duldet innerhalb seines Machtbereichs keine Devianz (die kompromisslose Haltung der Pinkerton-Agentur, einer der Antagonisten des Spiels, symbolisiert dies im Spiel als Sanktionsinstanz),15 weshalb deviante Figuren aus dem systemisch kontrollierten Zentrum in die Peripherie fliehen müssen. Die kriminellen Avatare und Figuren sind bestrebt, die Welt zu verändern, doch anders als die machtvollen Avatare der postapokalyptischen digitalen Spielwelten, die den Zustand der Welt wandeln können, insofern sie dies wollen, reichen weder Agency noch narrative Figurenkonzeption aus, um den systemischen Zustand innerhalb der Spielwelt zu wandeln und sie scheitern letztlich. Allenfalls können sie diese Ordnung temporär stören. Sie müssen konform gehen oder weichen; das System ist mächtiger als der_die Akteur:in. Dieser Umstand manifestiert sich spielmechanisch in Missionen wie „Bankwesen, die alte amerikanische Kunstform“, in welcher der Avatar und die mit ihm verbündeten Figuren in eine Schießerei als Resultat eines Bankraubs verwickelt werden, die sie – bedingt durch die Spielregeln – nicht gewinnen können. Infolge der Auseinandersetzung sterben nicht nur einige Bandenmitglieder, sondern die überlebenden Bandenmitglieder werden entweder verhaftet oder müssen temporär die USA verlassen. Spielregeln und Spielmechaniken korrespondieren hier mit der Narration und verdeutlichen die Ausweglosigkeit der Situation des Avatars. Unterstreicht die Korrespondenz der narrativen wie spielerischen Devianz in der Postapokalypse die Machtfülle der Avatare, so stellt sie in RDR2 die Machtlosigkeit der Avatare aus.
6 Fazit und Ausblick
Was folgt aus diesen knappen Inhaltsanalysen? Wir haben gesehen, dass die dystopischen postapokalyptischen digitalen Spiele ihre Avatare, trotz deren exponierter intradiegetischer Positionierung sowie Agency, zwischen Selbst- und Pflichterfüllung oszillieren lassen können, wobei es letztlich unterschiedlich ist, ob die Avatare (nur) für ein systemisches Endziel kämpfen oder eben auch für sich selbst. Weiterhin haben wir mit Blick auf die kriminellen Milieus in digitalen Spielen erkannt, dass die narrative wie spielerische Macht des politischen und gesellschaftlichen Systems dieser Spiele darüber entscheidet, wer aufsteigt und wer nicht oder – anders gesagt – wer deviant ist, indem er sich gegen die artikulierten Normen auflehnt. Diese Erkenntnisse erlauben eine neue Reflexion der Beschaffenheit der politischen und gesellschaftlichen Systeme in diesen Spielen. Sie erscheinen als artifizielle, teilweise kaum nahbare Konstrukte mit abstrakten Zielsetzungen, deren Wirken durch ihre Repräsentant:innen stattfindet, wobei jene mit besonderer Agency ausgestattet werden und narrativ besonders machtvoll dargestellt werden, die sich in den Dienst des Systems stellen (oftmals die Antagonist:innen der Spiele). Diejenigen, die dies nicht tun, müssen sich mit den machtvollen Systemrepräsentant:innen auseinandersetzen, die ihnen entgegenstehen. Als kulturelle Errungenschaft stehen das politische und gesellschaftliche System den natürlich beziehungsweise naturbezogen Lebenden entgegen, wodurch der lang tradierte Konflikt zwischen Natur und Kultur reaktualisiert wird. Die technisierte, zivilisatorisch hochentwickelte Kultur steht hierbei nicht nur einer einfachen, subsistenzwirtschaftlich ausgerichteten (vermeintlich) natürlichen Lebensweise entgegen, sondern versucht, auf diese überzugreifen und sie sich einzuverleiben.16 Als Kontrast zum gesellschaftlichen Gruppenzwang der Kultur werden natürliche Räume und Ordnungen als Stätten der freien Selbstentfaltung idealisiert, als Sehnsuchts- und Fluchtpunkt markiert, in denen deviantes Verhalten individuell wie in Gemeinschaften möglich ist.
Potenziell interessant können postapokalyptische Spielwelten für Spieler:innen sein, die sich in ihrer Lebenswelt machtvollen normsetzenden Instanzen gegenüber sehen und hierdurch ihre eigene Agency als reduziert betrachten. Diese Spielwelten ermöglichen ihnen durch ihre Avatare das Ausagieren einer hohen Agency, die jenseits derartiger digitaler Spiele nicht zu realisieren ist und dies mit maximalem Effekt (zum Beispiel Weltenrettung im Sinne der Heldenreise in Horizon oder BotW). Digitale Spielwelten mit kriminellen Milieus hingegen stellen ein Setting in Aussicht, das den (oftmals vergeblichen) ökonomischen Aufstieg eines Außenseiters zu versprechen scheint, der sich somit gegen politische und gesellschaftliche Widerstände stellt. In diesen Punkten drücken sich zentrale Aspekte des ‚Coming of Age’-Genres aus, sogleich werden sie jedoch häufig im Sinne der Medienkritik gegen eine vermeintlich weniger leistungsstarke und -orientierte Generation gewandt, die sich Erfolgserlebnisse in künstlichen Welten suchen müsse. Derart undifferenzierte Urteile sind mit Vorsicht zu betrachten, verstellen sie doch oftmals den Blick auf relevante Themen und Perspektiven. Die Inhaltsanalyse populärer digitaler Einzelspieler:innen kann neue Erkenntnismöglichkeiten bieten und dadurch Ausgangspunkt für tiefergehende hermeneutische Untersuchungen eines für die Populärkultur prägenden Genres sein.
Besonders aufschlussreich ist diesbezüglich die Betrachtung der Spielwelt-Figuren-Relation der untersuchten Spiele. Wenn einerseits eine gestörte Spielwelt in Spielen mit postapokalyptischem Setting (extra- wie intradiegetisch) deviante Figuren produziert, andererseits aber eine (scheinbar) intakte, nicht kriminelle Spielwelt (extra- wie intradiegetisch) ebenso deviante Figuren erzeugt, so ist dies nicht nur Anlass, die vermeintliche Intaktheit der dargebotenen Spielwelt zu hinterfragen, sondern auch die Implikationen dieser „geschlossenen ethischen Systeme“ kritisch zu reflektieren (Sicart, 2009).17 Die Frage ist dann, ob das Spielen derartiger Spiele, auch wenn es dem Wunsch nach Devianz entspringen mag, auch ein devianter Akt ist. Wenn Spieler:innen sich in diese devianten Spielwelten begeben, um Erfahrungen jenseits der konformistisch gestalteten Lebenswelt zu machen, dann führt dieses Spielen nämlich nicht zwangsläufig zur Überprüfung oder Subversion der eigenen, konformistisch geprägten Lebenswelt. Vielmehr ist in der vermeintlichen Devianz oftmals ein Plädoyer für die Konformität versteckt, das etwas absurd anmuten mag, verbindet man Devianz doch eher mit Subversion. Einen klareren Blick auf diese Paradoxie erlaubt die Analyse des Verhältnisses zwischen Dystopie und Utopie in den untersuchten Spielen. Death Stranding zeigt zwar eine dystopische Welt, die anders als unsere gegenwärtige Lebenswelt kaum sein könnte und hierdurch deviant erscheint, sie endet aber mit der Komplementierung der UCA, des politischen Systems, das bestrebt ist, die heutigen USA bestmöglich zu emulieren. Auch wenn Sam als Protagonist narrativ deviant gehandelt haben mag und immer wieder bemüht ist, eben nicht jenem System zu dienen, kann er ihm als Spielfigur, die ihre Agency nutzen muss, letztlich doch nicht entfliehen. Die extradiegetische Botschaft ist unmissverständlich – das System gewinnt (immer). Das deviante Handeln ist nur ein (pseudo-)deviantes Handeln, dient eigentlich der Vermittlung eines extradiegetischen Konformismus.
Arthur Morgans (Protagonist in RDR2) persönliche Reise endet in RDR2 hingegen zwar niedergeschossen und verblutend, jedoch findet er (je nach Fortgang des Spiels) seinen Frieden und stirbt mitten in der Natur. Damit erreicht Arthur nicht nur seine eigene Version einer Utopie, vielmehr lebt diese Utopie in Arthurs Gefährten John (und nach ihm in dessen Sohn Jack) fort und wird immer weitergetragen.18 Auch wenn das politische und gesellschaftliche System seine Machtbereiche behaupten und auch ausbauen kann, so ist es dennoch nicht imstande, die ‚Utopist:innen’ endgültig zu besiegen. Auch wenn sie hohe Verluste in Kauf nehmen müssen und viele Figuren sterben, so bleibt ihr Ideal in gewisser Weise unsterblich. Dergestalt erscheinen Dystopien durch das Bestreben der Figuren, den Zustand der Spielwelt wieder in ihren ‚Urzustand’ zurückzuführen aus extradiegetischer Perspektive konformistisch-affirmativ, wohingegen Utopien durch die fortwährenden Bemühungen der Figuren, diese zu verwirklichen, deviant-transformativ zu sein scheinen. Obwohl Dystopien politische und gesellschaftliche Systeme darstellen, die wesentlich von unserer aktuellen Lebenswelt abweichen, wirken sie gerade hierdurch stabilisierend und erhaltend für die politischen und gesellschaftlichen Systeme, in denen wir leben. Dystopien führen Spieler:innen als sozialen Akteur:innen vor Augen, dass das gegenwärtige System durch ein viel schlimmeres ersetzt werden könnte, wodurch die aktuellen Systeme eine Legitimation erfahren. Utopien destabilisieren und gefährden dieses System wiederum, da sie politische und gesellschaftliche Entwürfe präsentieren, die eine Verbesserung gegenüber den existierenden Zuständen darbieten (können).
Dystopien, obwohl sie deviante Welten darstellen, erfüllen sozial demnach eine ähnliche Funktion wie Alltagsmythen, etwa der ‚American Dream’ (Barthes, 2019). Sie versprechen eine Veränderung, die aber nur scheinbar eintritt, da das System in seiner Gesamtheit und grundlegenden Funktionalität nicht berührt wird. Vielmehr wird es legitimiert und dadurch stabilisiert, dass es sich als gerecht darstellt. Was bedeutet dies für digitale Spiele als populäre Artefakte der digitalen Medienkultur? Es bedeutet, dass die untersuchten Spiele zwar dahingehend ein Erleben und Ausagieren von Devianz erlauben, indem sie das Eintauchen in Rollen und Spielwelten gestatten, die im Kontrast zu unserer gesellschaftlichen Realität als deviant anzusehen sind. Darüber hinaus zeigt sich jedoch auch, dass sich deviante Avatare und Spielwelten nicht zwangsläufig subversiv zur konformistischen Lebenswelt verhalten müssen, sondern diese oftmals eher untermauern. Wer also in devianten digitalen Spielen nach Ausdrucksformen politischer und gesellschaftlicher Veränderung beziehungsweise des Widerstands sucht, muss sehr genau hinsehen.
Dennoch lassen sich einige Aspekte ausstellen, bei all den genannten Unterschieden, die in allen analysierten Spielen auf größere gesellschaftliche Themenkomplexe verweisen und im Kontext des Verhältnisses zwischen Konformität und Devianz von Interesse sind. So entsprechen alle untersuchten Spiele dem Wunsch nach Eskapismus und thematisieren die Beziehung zwischen System und Akteur:in, wobei das System als expansiv-übergriffig erscheint und der individuellen Selbstverwirklichung entgegensteht. Systemisch handelnd heißt in diesen Spielen, gegen die eigenen Interessen und Wünsche zu handeln und ‚frei’ ist nur, wer sich dem System entgegenstellt.19 In diesem Zusammenhang verwundert es dann auch nicht, wenn jene Formen des sozialen Zusammenlebens besonders positiv dargestellt werden, die gemeinschaftlich und nicht gesellschaftlich organisiert sind, deren systemische Beschaffenheit also weniger restriktiv ausgeprägt ist. Insofern scheint Koppetschs eingangs zitierte Beschreibung durchaus zutreffend zu sein. Ferner unterstreicht die Aufwertung natürlicher Lebensräume in fast allen betrachteten Spielen das Umweltbewusstsein der Spieler:innen und selbst technisierte Spielwelten wie in Death Stranding versinnbildlichen im todbringenden Regen, welche Bedeutung dem Klimawandel als Menschheitsaufgabe zukommt.20 Zukünftige Analysen, die sich von der Wahl dieser Untersuchungsgegenstände inspirieren lassen, könnten sich stärker auf die spielerischen Handlungsmöglichkeiten konzentrieren, was in dieser Arbeit aus Platzgründen weitestgehend unterbleiben musste. Dies würde es auch erlauben, zu fragen, was passiert, wenn Spieler:innen in devianten digitalen Spielen auch deviant handeln, denn diese Studie untersuchte durch ihren Fokus auf die erzählerische Figurenanlage primär spielregelkonforme Handlungsmöglichkeiten in diesen Spielen und nicht die Möglichkeiten widerständigen Spielens. Diese Betrachtungsweise von der Peripherie ins Zentrum zu rücken, würde beispielsweise die Frage aufwerfen, wie Arthur Morgan als konformer Charakter in einer devianten Welt (über-)leben kann und das Verhältnis zwischen Devianz und Konformität neu gewichten.
Datenverfügbarkeit
Für die vorliegende wissenschaftliche Arbeit wurden keine Forschungsdaten im engeren Sinne erhoben.
Finanzierung
Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit wurde aus eigenen Mitteln finanziert.
Interessenskonfliktstatement
Der Autor erklärt, dass seine Forschung ohne kommerzielle oder finanzielle Beziehungen durchgeführt wurde, die als potenzielle Interessenskonflikte ausgelegt werden können.
Literatur
Asch, S. E. (1951). Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgment. In Groups, leadership and men. Research in human relations (S. 177–190). Pittsburgh: Carnegie Press.
Barthes, R. (2019). Mythen des Alltags. Berlin: Suhrkamp.
Caillois, R. (2017). Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch. Berlin: Matthes & Seitz.
Engelns, M. (2014). Spielen und Erzählen: Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierung. Heidelberg: Synchron.
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World of Warcraft. Blizzard Entertainment 2004-.↩︎
Für eine kritische Sichtweise auf die Möglichkeit, Rollen in World of Warcraft zu spielen s. MacCallum-Stewart MacCallum-Stewart & Parsler (2008).↩︎
Im Rahmen dieser Analysen können die jeweiligen Spiele beziehungsweise deren Spielinhalte aufgrund der Kürze nicht ausführlich beschrieben werden, vielmehr wird ihre Kenntnis vorausgesetzt. Zur Veranschaulichung können Walkthroughs auf YouTube dienen.↩︎
Vgl. https://de.statista.com/infografik/22414/umsatz-ausgewaehlter-sektoren-der-unterhaltungsindustrie/ (18.03.2022).↩︎
Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/315860/umfrage/anteil-der-computerspieler-in-deutschland/ (18.03.2022).↩︎
Grand Theft Auto: San Andreas. Rockstar Games 2004.↩︎
Die hierin implizierte Sozialkritik, die für Spiele von Rockstar durchaus typisch ist, verdient weiterführende Analysen.↩︎
Diesbezüglich geeignete Untersuchungsgegenstände für mediensoziologische, medienethnografische und nethnografische Studien stellen neben den bekannten sozialen Netzwerken Plattformen wie YouTube oder Foren wie Reddit dar (Kozinets, 2010).↩︎
Horizon Zero Dawn. Guerilla Games 2017; The Legend of Zelda: Breath of the Wild. Nintendo EPD 2017; The Last of Us 2. Naughty Dog 2020; Death Stranding. Kojima Productions 2019.↩︎
The Last of Us. Naughty Dog 2013.↩︎
Gänzlich anders ist dies in den Spielen der Watch Dogs-Reihe, deren handlungstreibendes Momentum durch den Kampf der revolutionär gesinnten Protagonist:innen gegen das antagonistisch aufgeladene politische System erzeugt wird. Vgl. Watch Dogs. Ubisoft 2014–2020.↩︎
GTA V. Rockstar North 2013; RDR2. Rockstar Studios 2018. Besonders augenscheinlich wird die herausragende Stellung derartiger Spiele anhand ihres ökonomischen Erfolgs. GTA V gilt zum Beispiel als Unterhaltungsprodukt, das am schnellsten die Umsatzschwelle von einer Milliarde US-Dollar überschritt und deshalb in der Presse gelegentlich als ‚erfolgreichstes Unterhaltungsprodukt der Welt’ bezeichnet wird. Vgl. https://de.statista.com/infografik/1485/zeit-bis-1-mrd-umsatz-bei-ausgewaehlten-videospielen-filmen/ (18.03.2022).↩︎
GTA IV. Rockstar North 2008.↩︎
Dies wird inbes. daran deutlich, dass sich das für Spieler:innen bedeutsame Lager mit zunehmendem Spielverlauf immer weiter in den Osten verlagert und daran, dass der Westen als Sehnsuchtsort erst gefahrlos zu betreten ist, wenn der Hauptteil des Spiels erfolgreich abgeschlossen wurde. Versuche, dieses Spielareal davor zu betreten, ziehen eine entschiedene Reaktion des Spielsystems nach sich, das den Avatar durch eine Vielzahl gut bewaffneter Figuren verfolgen lässt.↩︎
Dies wird spielmechanisch dadurch unterstrichen, das sanktionierend-strafende Figuren dem Avatar zumeist in (deutlichen) Überzahlsituationen entgegentreten.↩︎
Als System duldet die Kultur in diesen Spielen (paradoxerweise) keine systemische Umwelt, sondern versucht, diese stets zu integrieren, wobei unklar ist, wie die Kultur als solche im Erfolgsfall fortbestehen will, wenn die System-Umwelt-Differenz und damit der definierende Unterschied entfällt. Wahrscheinlich, gerade durch die Anbindung der Kultur an den Kapitalismus in RDR2, ist hierin eine Kritik an einem Kapitalismus zu sehen, der sich selbst verschlingt.↩︎
Gemeint sind hiermit digitale Spiele, die ihre moralische Ordnung normativ-präskriptiv darstellen und den Spieler:innen hierdurch keine Möglichkeit einräumen, diese zu verändern.↩︎
John und Jack Marston sind dementsprechend auch die Protagonisten von Red Dead Redemption, das erzählerisch nach RDR2 angesiedelt ist. Vgl. Red Dead Redemption. Rockstar San Diego 2010.↩︎
Gerade hierauf aufbauend könnte perspektivisch diskutiert werden, inwiefern die digitale Medienkultur Mediennutzer:innen das Ausagieren einer gesteigerten Agency ermöglicht und hierdurch das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteur:innen abmildert oder kompensiert.↩︎
Erkenntnisreich könnten in diesem Zusammenhang Studien sein, die sich dezidierter mit der Technik-, Kultur- und Sozialkritik devianter digitaler Spielwelten befassen.↩︎
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