Wachstumsdynamiken, Inhalte und Emotionen in ‚identitären‘ Chatgruppen

Eine Text-Mining- und Sentiment-Analyse von Chatgruppeninhalten der ‚Identitären Bewegung‘ in Deutschland

  • Frank Hause ORCID logo Universitätsklinikum Freiburg

DOI:

https://doi.org/10.15460/kommges.2022.23.1.880

Schlagworte:

Identitäre Bewegung, Telegram, lokale Chatgruppe, Vernetzung, Text Mining

Redaktion und Begutachtung

  • Jan-Hinrik Schmidt ORCID logo Leibniz-Institut für Medienforschung -Hans-Bredow-Institut
  • Mattes Ruckdeschel ORCID logo Leibniz-Institut für Medienforschung -Hans-Bredow-Institut

Abstract

Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Wachstumsdynamiken und Inhalte von insgesamt 67 Telegram-Chatgruppen, die auf Initiative der sogenannten ‚Identitären Bewegung’ im Zeitraum von August bis November 2019 gegründet wurden. Dabei wurden die Daten und Chatverläufe von 2.000 bis 4.000 Gruppenmitgliedern erfasst und ausgewertet. Die Gruppengründung geht mit einem enormen Vernetzungspotenzial einher, das weit über den digitalen Raum hinausgeht. Obwohl der Anteil der aktiven Gruppenmitglieder stark schwankt, führte der Aufruf zur Gründung einer Chatgruppe in etwa 30 Prozent der Fälle zu einem persönlichen Treffen der Mitglieder innerhalb von drei Monaten ab Gründung. Mit einem Text-Mining-basierten Topic Modelling konnte nachgewiesen werden, dass in den Chatgruppen vorrangig gefühlte Bedrohungen wie vermeintlich gewalttätige Migrant:innen und ‚grüne’ Themen wie Maßnahmen zum Klimaschutz, aber auch die Partei B90/Die Grünen als Feindbilder konstruiert werden. Dem werden Narrative wie Unterstützung in der Chatgruppe, Zusammenhalt und Vertrauen als Ideale gegenübergestellt. Interessant ist auch, wie der antisemitische Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 von den Gruppenmitgliedern aufgenommen wird. An diesem Tag lässt sich im Vergleich zum gesamten Analysezeitraum eine deutliche Zunahme der Emotionen Wut und Ekel beobachten. Auch wenn auf dieser Basis keine Kausalzusammenhänge belegt werden können, liefern die Daten starke Argumente dafür, dass derartige Chatgruppen dichotome Gut-Böse-Einstellungen und Narrative reproduzieren, multiplizieren und so die weiterführende Radikalisierung ihrer Mitglieder begünstigen können.

1 Hintergrund

Die digitale Vernetzung ist für die Neue Rechte und andere Angehörige der rechten Szene immer zentraler geworden, insbesondere im Hinblick auf den Austausch von Informationen, die Rekrutierung neuer Sympathisant:innen und den Aufbau internationaler Kooperationen. Im Zuge dieser Entwicklung veränderten sich auch die Kommunikations- und Vernetzungsstrukturen innerhalb der rechten und rechtsextremen Szene stark. Fast jeder Mensch in Europa hat heute Zugang zu einem internetfähigen Computer oder Smartphone. Unzählige soziale Plattformen bieten täglich die Möglichkeit zur Diskussion, zum Austausch, zur Informationsbeschaffung und zum Knüpfen neuer Kontakte. Vor diesem Hintergrund gerieten große soziale Netzwerke wie Facebook in den letzten Jahren immer wieder in den Fokus des öffentlichen Interesses, da sie in der Kritik stehen, einen geschützten Kommunikationsraum für extremistische Ideologien einschließlich rechtsnationaler, geschichtsrevisionistischer und antisemitischer Einstellungen zu bieten (Lanzke, 2016; Schuppener, 2016). Infolge des öffentlichen Drucks reagierte Facebook als großer Plattformbetreiber und ergriff Gegenmaßnahmen. Laut Pfeiffer (2016) führte dies jedoch nur zu einem Ausweichen auf andere Plattformen wie VK.com, wo mittlerweile eine große Menge an nationalistischem und revisionistischem Material zu finden ist.

Die rechte Vernetzung bezieht aber nicht nur soziale Netzwerke als partizipativ ausgerichtete Webdienste ein, sondern seit einiger Zeit auch Instant-Messenger-Dienste. Diese Dienste bieten rechten und rechtsextremen Aktivist:innen gegenüber anderen (Kommunikations-)Medien zahlreiche Vorteile: 1) Hierbei handelt es sich oft um verbreitete, niedrigschwellige und kostengünstige Angebote zur Interaktion, die aufgrund der großen Verbreitung mobiler Endgeräte nahezu allen offenstehen. 2) Instant-Messenger-Dienste versprechen insofern eine geschützte Kommunikation, als die Chats bei gängigen Anbieter:innen oft eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung vorweisen und somit eine hohe Barriere für Dritte besteht, diese einzusehen (Sutikno, Handayani, Stiawan, Riyadi & Subroto, 2016). 3) Dienste, bei denen Chatgruppen nicht moderiert werden, unterliegen keiner Kontrolle durch Instanzen, die normalerweise für eine Lenkung des Diskurses sorgen (Schroeder, 2018), was es 4) einfacher macht, extremistische und rechtlich relevante Inhalte ohne Angst vor Strafverfolgung zu verbreiten (Tateo, 2005). Vor diesem Hintergrund stehen solche Chatgruppen im Verdacht, die Radikalisierung ihrer Mitglieder voranzutreiben und somit zu tatsächlichen Gewaltakten, wie den Anschlägen von Hanau und Halle, beizutragen (Jones, Doxsee & Harrington, 2020). Einer solchen Radikalisierung wird insbesondere durch die Reproduktion und Multiplikation rechter und rechtsextremistischer Positionen, die sich in gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Hassrede und Verächtlichmachung der politischen Gegner:innen (Holt, Freilich, Chermak & McCauley, 2015), in offener Ablehnung demokratischer Institutionen(Garry, Walther, Mohamed & Mohammed, 2021) sowie der ungehemmten Formulierung von Gewaltfantasien ausdrücken, Vorschub geleistet (Jones et al., 2020).

In diesem Zusammenhang spielt der Messenger Telegram mittlerweile eine zentrale Rolle für die rechte und rechtsextreme Mitgliederakquise, Mobilisierung und Koordination sowie Informationsverbreitung (Mudde, 2019). Telegram ist ein kostenloser, cloudbasierter Instant-Messenger-Dienst, der sowohl auf mobilen als auch auf nicht mobilen Geräten genutzt werden kann und dessen Betreiber:innen großen Wert auf den Schutz der Daten und der Anonymität ihrer Nutzer:innen legen. Die Verifizierung eines Telegram-Kontos erfolgt über eine Telefonnummer, die nicht die Telefonnummer des Geräts sein muss, über welches der Dienst genutzt wird. Das bedeutet, dass eine beliebige Anzahl von Geräten über ein Konto registriert werden kann und ein:e Nutzer:in mehrere Telegram-Konten nutzen kann, die über eine entsprechende Anzahl von Telefonnummern verifiziert werden müssen. Seit Juni 2015 erlaubt Telegram ferner Bots, die in Chatkanälen verschiedene Aufgaben übernehmen können. Dazu gehören zum Beispiel das Bündeln und Verteilen von Chatgruppen, das Reagieren auf Schlüsselwörter im Chatverlauf und der (temporäre) Ausschluss von Chatpartner:innen, wenn diese gegen bestimmte Gruppenregeln verstoßen. Im Oktober 2017 wurden zudem standortbezogene Dienste im Messenger verankert. Im Zuge der Weiterentwicklung wurde im Juni 2019 eine Funktion implementiert, die es ermöglicht, Nutzer:innen oder Chatgruppen in geografischer Nähe zu finden – wenn diese zuvor die Nutzung des Standortsignals erlauben – ohne dass diese zuvor der eigenen Kontaktliste angehören müssen oder es einer Einladung in eine Gruppe bedarf (Telegram, o. J.).

Die sogenannte ‚Identitäre Bewegung’, die sich aktionsorientiert vornehmlich in der Ansprache jüngerer Adressat:innen versucht (Bruns, Glösel & Strobl, 2016), erkannte in dieser Funktion ein bedeutsames Vernetzungspotenzial: Am 6. August 2019 wurde in einem YouTube-Video zur Gründung von lokalen ‚patriotischen’ Gruppen über Telegram aufgerufen.1 Die daraufhin gegründeten lokalen Gruppen der ‚Identitären Bewegung’ wurden dann von einem Bot in Telegram als Liste für Deutschland, Österreich und die Schweiz veröffentlicht. Im Gegensatz zu früheren digitalen Netzwerken wurde damit die technische Infrastruktur geschaffen, damit sich ‚identitäre’ und interessierte Telegram-Nutzer:innen im gesamten deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich und Schweiz) vernetzen können. Bei den vom Bot zusammengefassten lokalen Gruppen handelte es sich jedoch um öffentliche Gruppen, die von allen Telegram-Nutzer:innen eingesehen werden können, ohne dass eine Mitgliedschaft in dieser Gruppe erforderlich ist. Somit war es möglich, die Chatverläufe der einzelnen Gruppen herunterzuladen, die vorliegend als Korpus für die Auswertung dienen.

Bei der Analyse umfangreicher Textkorpora, die auch Chatgruppeninhalte umfassen können, sind regelmäßig große Mengen schriftlicher Daten aufzuarbeiten, weshalb sich computergestützte Methoden für die Bewältigung dieser Aufgaben anbieten. Allgemein werden computergestützte Methoden zur Manipulation, Analyse und Interpretation von textuellen Daten als Text Mining bezeichnet. Vorliegend wird Text Mining vor allem zur Aufbereitung (Präprozessierung) von und der Mustererkennung in Texten genutzt. Obgleich sich Text-Mining-basierte Ansätze allgemein gut zur wissenschaftlichen Untersuchung großer Textmengen, wie sie oftmals in Form von Blogs, sozialen Netzwerken oder Messengerdiensten entstehen, eignen, finden entsprechende Ansätze in der deutschen Forschung bislang noch keine flächendeckende Verwendung. Vor diesem Hintergrund sind als wegweisende Arbeiten für den deutschen Sprachraum insbesondere die Beiträge von Stier, Posch, Bleier und Strohmaier Stier, Posch, Bleier & Strohmaier (2017) mit einer Text-Mining-basierten Topic-Modelling-Analyse von Facebook-Posts der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) und der „Alternative für Deutschland“ (AfD) sowie von Mayer (2021) zu nennen, die mithilfe des Text Mining die Phänomene Rechtsextremismus und gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit anhand der Sammlung von Ereignismeldungen des sächsischen Dokumentationsarchivs chronik.LE untersucht. Beiden Untersuchungen ist gemein, dass sie für die Identifikation von in den Korpora relevanten Themen einen Latent-Dirichlet-Allocation-Ansatz (LDA-Topic Modelling) (Blei, 2012; Blei, Ng & Jordan, 2003) nutzen. Dabei handelt es sich um einen nicht überwachten, semiautomatischen Algorithmus zur Identifikation relevanter Themen in einem Korpus auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten, dass bestimmte Begriffe häufiger zusammen in einem Dokument vorkommen, als dies auf Basis einer Zufallsverteilung zu erwarten wäre.

Ferner ist gerade im Fall von Kommunikationsinhalten auf Messenger-Diensten und in sozialen Netzwerken zu erwarten, dass sich diese zeitabhängig verändern. So gibt es einerseits Erkenntnisse, die nahelegen, dass Ereignisse in der realen Welt das Kommunikationsverhalten auf sozialen Onlinekanälen beeinflussen (Jikeli, Cavar & Miehling, 2019); andererseits wurde dies im Falle von Twitter auch konkret für Tweets von Abgeordneten und Verbänden der AfD belegt, die am 9. Oktober 2019, dem Tag des antisemitisch motivierten Anschlags von Halle mit zwei Todesopfern, abgesetzt wurden (Niedick, 2020). Um solche zeitabhängigen Veränderungen mit Blick auf die in Chatinhalten artikulierten Emotionen nachzuzeichnen, bietet sich als Text-Mining-basierter Ansatz die sogenannte Sentiment-Analyse an. Dabei handelt es sich um einen Ansatz, mit dessen Hilfe Texte oder Textteile automatisiert hinsichtlich der Stimmung oder Haltung, die sie transportieren, klassifiziert werden können (Lehmann, Mittelbach & Schmeier, 2017).

Das Topic Modelling und die Sentiment-Analyse bilden die Grundlage der vorliegenden Auswertung, die insbesondere die folgenden Fragen adressiert:

  • Wie lässt sich die Zahl der lokalen Chatgruppen der ‚Identitären Bewegung’ und ihrer (aktiven) Mitglieder in der Bundesrepublik charakterisieren und inwieweit hat der Aufruf zur Gründung lokaler Chatgruppen zu persönlichen Treffen der Mitglieder geführt?
  • Welche Themen werden in den Gruppen diskutiert und wie werden diese bewertet?
  • Welche Emotionen prägen die Gruppendiskussionen und erscheinen diese geeignet, die Radikalisierung ihrer Mitglieder voranzutreiben? Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der Emotionsanalyse hinsichtlich der Wahrnehmung des antisemitischen Anschlags in Halle am 9. Oktober 2019 durch die Gruppenmitglieder ziehen?

2 Methodik

2.1 Datenerfassung und Rohdatenverarbeitung

Die zentrale Telegram-Gruppenliste aller lokalen Chatgruppen wurde am 24. November 2019 abgerufen. Diese Liste umfasste 68 lokale Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Da es nicht möglich war, den Chatverlauf über die Telegram-Desktop-Oberfläche oder die Version für mobile Geräte zu speichern, wurde der gesamte Chatverlauf jeder Gruppe einzeln über die Telegram-Weboberfläche gespeichert. Die Pseudonyme aller lokalen Gruppenmitglieder wurden ebenfalls über das Telegram-Webinterface heruntergeladen. Der Download des gesamten Materials fand in der Zeit vom 24. bis 27. November 2019 statt. Während der Datenerfassung wurde die lokale Chatgruppe Rhein-Sieg gelöscht, sodass die vorliegende Auswertung auf 67 Gruppen in Deutschland basiert.

2.2 Untersuchung der Gruppen- und Wachstumsdynamiken

Um einen einheitlichen Auswertungszeitraum zu generieren, wurden alle Chatverläufe auf den 22. November 2019, 23:59 Uhr, trunkiert, was in einem Korpus mit 135.744 Posts in den Chatgruppen resultierte. Die Entwicklung der Mitgliederanzahl einer Gruppe konnte für jeden Zeitpunkt über die Einträge ‘in die Gruppe eingetreten’, ‘aus der Gruppe ausgetreten’ und ‘entfernt’ ermittelt werden. Anhand dieser Informationen wurden die Mitgliederlisten so gefiltert, dass sie den Mitgliederstatus einer Gruppe vom 22. November 2019, 23:59 Uhr, wiedergeben. Das Gründungsdatum jeder Gruppe wurde aus dem ersten Eintrag im nicht trunkierten Chatverlauf ausgelesen, der standardmäßig die Erstellung der Gruppe angibt.

Ob ein Chatbot in einer Chatgruppe aktiv ist, lässt sich zum einen über die Mitgliederliste und zum anderen über Beiträge des Bots (z. B. Willkommensnachrichten an neue Mitglieder) ermitteln. Die folgenden Bots wurden als neutral eingestuft, das heißt, sie wurden nicht mit einer nachträglichen Manipulation des Chatverlaufs in Verbindung gebracht: Group Butler, Combot, Welcome Bot, Ernstinator, DonBot, PatriotBot und DiscussBot. Andere Bots, wie Group Help und delall bot, wurden als fähig eingestuft, den Chatverlauf zu manipulieren.

Für den Status als aktives Gruppenmitglied wurden zwei Kriterien zugrunde gelegt: 1) Das Mitglied postet aktiv und über den Auswertungszeitraum jeweils mindestens einmal wöchentlich Beiträge in der Gruppe, solange die Gruppe existiert. 2) Das Mitglied ist am Ende des Auswertungszeitraums noch in der Mitgliederliste aufgeführt.

Um zu erfassen, ob persönliche Treffen innerhalb der Chatgruppen organisiert wurden, wurden die Chatverläufe einzeln nach den Begriffen kennenlernen*, treff* und stammtisch durchsucht.2 Inhalte mit diesen Schlagworten wurden händisch untersucht, um im Kontext zu beurteilen, ob sie auf die Absicht eines Treffens hinwiesen. Bei der Auswertung wurden drei mögliche Fälle unterschieden: 1) Entweder gab es in der Gruppe keine Hinweise darauf, dass die Mitglieder sich treffen wollten, oder die Frage, wie die Mitglieder der Chatgruppe zu einem persönlichen Treffen stehen, wurde zwar gestellt, aber von niemandem beantwortet. 2) Der Wunsch nach einem Treffen wurde von mehreren Mitgliedern aktiv kommuniziert; dabei wurde versucht, einen Termin und einen Ort festzulegen oder ein Treffen vereinbart, dessen Ergebnis aber anschließend im Chatverlauf nicht kommentiert wurde. 3) Aus dem Chatverlauf geht eindeutig hervor, dass ein Treffen der Gruppenmitglieder stattgefunden hatte, das auch nachträglich im Chat kommentiert oder mit Medien (wie beispielsweise Fotos) unterlegt wurde.

2.3 Topic-Modelling-Analyse zur Identifikation relevanter Themen

Um die für die Gruppen relevanten Themen zu ermitteln, wurde ein Text-Mining-Ansatz in R genutzt. Die Chatprotokolle aus allen 67 Gruppen wurden als Korpus für die Aufbereitung mit dem Package tm (Feinerer, Hornik & Meyer, 2008) verwendet. Sonderzeichen, doppelte Leerzeichen, Zahlen, Interpunktion und andere Nicht-Buchstaben-Zeichen wurden aus dem Korpus entfernt, ebenso wie deutsche Stoppwörter auf der Grundlage des Stoppwort-Wörterbuchs von tm (ebd.). Darüber hinaus wurde das Korpus auf ein eigens entwickeltes Set von 1.249 Stoppwörtern abgeglichen. Zusätzlich wurde ein Stemming, das heißt die Reduktion einzelner Wörter auf ihren Wortstamm, des gesamten Korpus durchgeführt.

Nach dieser Präprozessierung wurde eine Dokumenten-Term-Matrix erstellt, welche die Ausgangsbasis für die Identifikation von im Korpus relevanten Themen bildete. Für das Topic Modelling wurde der Latent-Dirichlet-Allocation-Ansatz (LDA-Topic Modelling) (Blei, 2012; Blei et al., 2003) genutzt. Dabei handelt es sich um einen nicht überwachten, semiautomatischen Algorithmus zur Identifikation relevanter Themen in einem Korpus auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten, dass bestimmte Begriffe häufiger zusammen in einem Dokument vorkommen, als dies bei einer reinen Zufallsverteilung zu erwarten wäre. Um abzuschätzen, wie viele Themen sich aus dem Korpus ergeben, wurde die durchschnittliche Topic-Kohärenz für LDA-Modelle von k = 1 bis k = 35 Topics berechnet (siehe Abbildung 1). Bei der Kohärenz handelt es sich um eine wahrscheinlichkeitsbezogene Größe, die angibt, wie kohärent ein Set von Begriffen unter semantischen Aspekten ist und stellt damit auch eine Maßzahl für die menschliche Interpretierbarkeit eines Sets von Begriffen dar (Jones, Doane & Attbom, o. J.). Die Implementierung des LDA-Ansatzes erfolgte mit dem R-Package textmineR (Jones et al., o. J.).

Durchschnittliche Topic-Kohärenz für k = 1 bis 35 Topics in der LDA-Modellierung

Das Ergebnis der Kohärenzberechnung legte eine Aufteilung des Korpus in sechs Themenfelder nahe. Dieses Ergebnis wurde durch einen deterministischen Topic-Modelling-Ansatz mittels Consensus Clustering (Wilkerson & Hayes, 2010), der ebenfalls eine Aufspaltung in k = 6 ergab, bestätigt.

2.4 Sentiment-Analyse zur Identifikation emotionaler Begriffe

Für die Sentiment-Analyse wurden die nicht präprozessierten Posts aller 67 Chatgruppenprotokolle gepoolt und nach Datum geordnet, sodass sie eine Zeitreihe von 100 Tagen des Auswertungszeitraums abbildeten. Um emotionale Begriffe in der Zeitreihe zu untersuchen, wurde Saif Mohammads NRC Word-Emotion Association Lexicon (EmoLex) (Mohammad & Turney, 2013, 2010) mit dem Syuzhet-Paket (Jockers, o. J.) in R verwendet. Das EmoLex enthält etwa 14.000 Begriffe in 40 verschiedenen Sprachen, die mit acht verschiedenen Emotionen assoziiert sind: Freude, Vorfreude, Vertrauen und Überraschung als positive Emotionen als sowie Angst, Ekel, Trauer und Wut als negative Emotionen.3 Ob ein Zusammenhang zwischen dem Begriff und der Emotion besteht, wird im EmoLex durch die Werte 0 (kein Zusammenhang) oder 1 (Zusammenhang) ausgedrückt. Für die Betrachtung der acht Emotionen wurden die Werte jeder Einzeldimension über alle Gruppen jeweils pro Tag aufsummiert. Die tagesbezogenen Summenwerte jeder Emotion wurden dann auf ihren Durchschnittswert über den gesamten Auswertungszeitraum normalisiert, sodass diese Werteänderungen im Vergleich zum Durchschnitt reflektieren. Ferner erfolgte eine Normalisierung auf die Anzahl der Posts am jeweiligen Tag, um zu berücksichtigen, dass die Zahl täglicher Nachrichten stark schwankt. Bei der Interpretation der Sentiment-Daten ist zu beachten, dass bewusst auf eine Darstellung absoluter Zahlenwerte verzichtet wurde, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass für den Analysezeitraum keine geeigneten Kontrolldaten zur Verfügung zu stehen.

Die Werte für die acht Einzelemotionen wurden als Funktion der Zeit aufgetragen, um a) zu untersuchen, welche Emotionen die Debatte in den Chatgruppen im Allgemeinen prägen, und b) um zu klären, wie sich die emotionale Reaktion der Chatgruppenmitglieder auf den antisemitisch motivierten Anschlag in Halle vom 9. Oktober 2019 im Vergleich zum gesamten Analysezeitraum ändert. Ferner wurden für auffällige Veränderungen in der Verwendung emotionaler Begriffe tagesweise analysiert, um zu ermitteln, auf welche Themen sich die emotionalen Begriffe beziehen.

3 Ergebnisse

3.1 Wachstumsdynamiken der Chatgruppen

Insgesamt wurden 67 Gruppen in die Analyse einbezogen. Davon kamen zwölf aus Bayern, zehn aus Nordrhein-Westfalen, acht aus Hessen, je fünf aus Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen, vier aus Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz, drei aus Thüringen, zwei aus Sachsen-Anhalt und je eine aus Berlin, Bremen, Hamburg und dem Saarland. In Brandenburg gab es zum Ende des Auswertungszeitraums keine lokale Gruppe. Genau eine Gruppe existierte bereits vor dem Aufruf zur Gruppenbildung. Werden die Mitgliederlisten aller Gruppen in Deutschland zusammengefasst, so finden sich darin 2.215 unterscheidbare Benutzernamen. Ausgehend von den Mitgliederlisten hat die größte Gruppe 288 Mitglieder und die kleinste fünf Mitglieder. Nachfolgend dargestellt ist die Entwicklung der Mitgliederanzahl über den Auswertungszeitraum sowie der Anzahl der täglichen Beiträge in allen Gruppen (siehe Abbildung 2).4

Entwicklung der Mitgliederzahlen sowie der Anzahl der täglichen Beiträge

Obwohl es eine starke positive Korrelation zwischen der Gesamtzahl der Gruppen und der Gesamtzahl der Gruppenmitglieder gibt (Spearman r = 0,990; p < 0,001), zeigte die Anzahl der täglichen Beiträge eine starke negative Korrelation mit der Anzahl der Gruppenmitglieder (Spearman r = -0,618; p < 0,001) und der Anzahl der Chatgruppen (Spearman r = -0,611; p < 0,001).

Ferner wurde auch ermittelt, ob und welche Bots in den Chatgruppen eingesetzt werden, da diese zum Teil in der Lage sind, Nachrichten zu löschen und so den Chatverlauf zu manipulieren. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle wird mindestens ein Bot zur Unterstützung einer Gruppe eingesetzt. Meist beschränkt sich die Bot-Aktivität jedoch auf die Begrüßung neuer Mitglieder und das Herausfiltern unerwünschter Nachrichten über Nacht. In sechs Gruppen (9 %) wurden Bots ausschließlich zum Löschen von Beiträgen eingesetzt. In weiteren 16 Gruppen (23,8 %) wurden andere Hinweise auf gelöschte Beiträge gefunden, sodass davon ausgegangen wurde, dass die Chatverläufe von 45 lokalen Gruppen vollständig oder nahezu vollständig sind. Ausgehend von diesen 45 Gruppen mit vermutlich nicht manipulierten Chatverläufen wurde die Aktivität der einzelnen Gruppenmitglieder ermittelt. Dazu wurde der Anteil der Gruppenmitglieder berechnet, die am Ende des Analysezeitraums in der Mitgliederliste aufgeführt waren und seit Gründung der Gruppe mindestens einmal pro Woche einen Beitrag in der Gruppe gepostet hatten. Dabei zeigte sich eine große Varianz zwischen den Gruppen. Ein hoher Anteil aktiver Gruppenmitglieder war vor allem bei kleinen und neu gegründeten Gruppen zu beobachten. Jedoch gab es auch lokale Chatgruppen, bei welchen der Anteil der aktiven Mitglieder vergleichsweise gering war, obwohl die Gruppe relativ viele Mitglieder hatte. So ergab sich eine Streubreite des Anteils aktiver Mitglieder pro Gruppe zwischen 9,3 und 100 %.

Schließlich wurde untersucht, inwieweit die Gruppengründung bereits zu persönlichen Treffen der Mitglieder geführt hatte. Dazu wurden die mutmaßlich vollständigen Chatverläufe der 45 lokalen Gruppen auf entsprechende Stichwörter untersucht. Hierbei zeigte sich, dass die Chatverläufe von 14 dieser 45 Chatgruppen eindeutige Hinweise auf persönliche Treffen zeigten; in acht Gruppen war ein persönliches Treffen aktiv geplant oder fand statt, wurde aber später nicht kommentiert; in weiteren 23 Gruppen war kein Treffen geplant. Bei diesen 45 lokalen Gruppen wurde auch festgestellt, dass der nominale Planungsstatus oder ein stattgefundenes Treffen mit der Größe der Gruppe korrelierte, wobei größere Gruppen eher zu persönlichen Treffen tendierten als kleinere (Spearman r = 0,492; p = 0,001).

3.2 Inhalte und Themen in den lokalen Chatgruppen

Um zu ermitteln, über welche Themen sich die Mitglieder der 67 lokalen Chatgruppen austauschen, wurde ein LDA-Topic-Modell auf Basis der präprozessierten Verläufe mit k = 6 Topics erstellt. Mithilfe dieses Ansatzes konnten diejenigen Token identifiziert werden, die als prägend für diese sechs Themenfelder anzusehen sind. Als Beurteilungskriterium für die Zuordnung diente der Parameter \(\phi\) eines Tokens als Maß für die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Themenbereich. Tabelle 1 listet alphabetisch geordnet diejenigen 30 Token auf, welche für die sechs Themenfelder den jeweils größten \(\phi\)-Wert aufweisen.

Tabelle 1: Ergebnis der LDA-Topic-Modellierung

Topics Topic 1: ‚Identitäre’ Vernetzung im dt. Sprachraum Topic 2: Online- und Offline-austausch Topic 3: Abgrenzung ‚alternativer’ und etablierter Medien Topic 4: Dt. und internat. Politik I (Fokus: Klima) Topic 5: Dt. und internat. Politik II (Fokus: Migration) Topic 6: Berichte über Gewalttaten und deren Opfer
Topic-Kohärenz 0,276 0,066 0,048 0,093 0,076 0,063
Token (alpha-betisch)
aktion

anhalt

bewegung

demo

deutschland

flyer

gegend

heimat

ib

identitär

klarnamen

list

lokal

mecklenburg

meinung

mitglied

patrioten

patriotisch

pegida

politisch

rhein

ruhrgebiet

sellner

telegramelit

treffen

unterstütz

vernetzen

vernetzungsgrupp

vorpommern

zusammen

anonymus

antifa

auszutauschen

bierchen

demo

deutsch

deutschland

diskutieren

facebook

famili

gewalt

heimat

hitler

inferno

informationen

instagram

klass

kritik

nazi

patriot

patrioten

recht

sicher

treffen

twitter

unterstütz

wahr

whatsapp

wissen

zusammen

aktionen

allein

angst

antifa

aussag

diskuss

diskutiert

fakt

glauben

gott

land

liebich

linken

medien

meinung

nazi

patrioten

patriotisch

politisch

problem

recht

schlimm

sicher

stadt

treffen

unterstütz

verantwortung

vernetzung

wissen

zusammen

ausland

bundesregierung

deutsch

deutschen

deutschland

erdogan

eu

euro

europa

Friday

futur

geld

janich

klima

klimawandel

krieg

land

medien

merkel

millionen

politik

problem

regierung

staat

thunberg

trump

usa

volk

wahrheit

wirtschaft

afd

bundestag

cdu

deutschen

deutschland

eu

europa

grüne

grünen

höcke

islam

italien

kultur

land

linken

medien

merkel

migranten

migrat

osten

partei

politik

recht

regierung

seehof

spd

verfassungsschutz

wählen

wahl

zdf

angriff

anschlag

deutsch

deutschen

deutschland

frau

frauen

gericht

gewalt

hall

islam

jährig

kind

land

mädchen

männer

messer

missbrauch

mord

opfer

polizei

polizisten

recht

region

täter

terror

unzensiert

vergewaltigt

verletzt

volk

Das erste Themenfeld beschäftigt sich mit ‚identitären’ Vernetzung durch die Telegram-Gruppen im gesamten deutschen Sprachraum. Geografische Bezeichnungen wie „anhalt“, „mecklenburg” oder „ruhrgebiet“ verweisen darauf, dass im gesamten Bundesgebiet lokale Gruppen der „ib“ gegründet wurden, die dazu dienen, dass sich ihre Mitglieder online und offline vernetzen können, ohne mit dem Eintritt in die „patriotischen“ Vernetzungsgruppen ihre „klarnamen“ preisgeben zu müssen. Mit Begriffen wie „demo“ oder „flyer“ werden frühere oder geplante Aktionen besprochen. Ferner verweist dieses Themenfeld mit den Token „sellner“ und „telegramelit“ auch auf den ursprünglichen Aufruf zur Gründung der lokalen Chatgruppen, der von Martin Sellner als Führungsfigur der ‚Identitären Bewegung’ im deutschen Sprachraum ausging. Sellners eigener Telegram-Kanal heißt „Telegramelite“. Exemplarisch für Topic 1 ist beispielsweise eine Willkommensnachricht an neue Mitglieder einer lokalen Gruppe: „In der Gruppe vernetzen sich Patrioten aus der Gegend. Achtung: es ist eine offene, öffentliche Gruppe. Überlege daher gut ob du hier mit Klarnamen/Foto auftreten willst und verberge deine Nummer in den Telegrameinstellungen” (Internes Dokument 5).

Topic 2 beschäftigt sich mit verschiedenen Möglichkeiten des Online- und Offlineaustauschs und zeigt gleichzeitig auf, über welche sozialen Netzwerke die lokalen Chatgruppen Nachrichten beziehen oder teilen. Auf die Offlinevernetzung verweisen hier beispielsweise Begriffe wie „auszutauschen“, „bierchen” oder „treffen“, etwa bei der Anbahnung persönlicher Treffen: „Wie sieht es denn aus mit einem Treffen? Schreiben und teilen können wir alle viel, aber ich denke die menschliche Interaktion im persönlichen Angesicht des anderen ist noch eine Stufe höher als sich online auszutauschen” (Internes Dokument 5). Online werden dagegen für die Vorbereitung und Durchführung von Aktionen oder als Nachrichtenquellen etablierte soziale Netzwerke und Messengerdienste, wie „facebook“, „instagram”, „twitter“ oder „whatsapp“ genutzt: „Leute möchte gerne mal wissen was ihr davon haltet, wenn ich bei Twitter, instargramm oder Facebook ein Kanal über meine Flyer Aktion einrichten würde, um noch mehr Gutmenschen zu erreichen, was sagt ihr dazu?“ (Internes Dokument 6).

Der dritte Themenbereich beschäftigt sich allgemein mit den sogenannten ‚alternativen’ Medien und der Abgrenzung von etablierten Medienformaten. Etablierte Medienformate werden dabei häufig als Block aus zentral gesteuerten „Mainstreammedien“ aufgefasst, deren vorrangige Aufgabe in der Reglementierung der informationellen Selbstbestimmung gesehen wird („Das wird Mal wieder von den mainstreammedien verschwiegen“, Internes Dokument 3); gleichzeitig glauben die Gruppenmitglieder auch, „dass bei allem was nicht der Mainstreammeinung entspricht, die Nazikeule geschwungen wird” (Internes Dokument 3), also eine vom sogenannten Mainstream abweichende Meinung mit öffentlicher Ächtung geahndet wird. Dem werden ‚alternative’ Informationsquellen gegenübergestellt, bei denen es sich häufig um Blogs oder Telegram-Kanäle von rechtspopulistischen bis rechtsextremen Akteur:innen handelt, wie beispielsweise der Online-Auftritt von Sven „liebich“ oder die Kanäle von Niklas Lotz5.

In den Themenbereichen 4 und 5 wurden hauptsächlich Token angereichert, die sich mit deutscher und internationaler Politik befassen. In Topic 4 liegt der Fokus dabei auf der Klimapolitik, was sich am Bezug auf die schwedische Klimaaktivistin Greta „thunberg“ oder die „friday[s for] futur[e]“-Bewegung zeigt. Mit Blick auf Erstere werden in den Chatgruppen zahlreiche Nachrichten geteilt, in denen diese verunglimpft wird. So werden Videos mit Titeln wie „WARUM NERVT GRETA THUNBERG SO?” (Internes Dokument 7) geteilt; ein anderer Beitrag trägt den Titel „Aufgedeckt: So krank ist die Klimagöre Greta Thunberg“ (Internes Dokument 7). Der Tenor ist dabei oft derselbe: Durch eine Delegitimierung – wahlweise durch das Absprechen inhaltlicher Kompetenzen oder das Zusprechen finanzieller Interessen – der Person Thunbergs wird versucht, sämtliche Bemühungen zum Klimaschutz zu delegitimieren: „Thema Klima ist kacke ist nicht wichtig kann man kein Geld mit verdienen wenn man nicht Thunberg oder so ist“ (Internes Dokument 8). Insgesamt lässt sich die Sicht der Gruppenmitglieder auf Fragen der Klimapolitik mit Schlagworten wie „Klimawahn“ oder „Klimahysterie“ beschreiben. Dementsprechend werden auch Personen, die sich öffentlich als Expert:innen oder Aktivist:innen in Sachen Klimaschutz positionieren, verunglimpft, und Klimaschutzbemühungen werden teilweise verschwörungsmythologisch erklärt:

Stell dir mal andere Fragen...die Welt soll wegen dem klimamist untergehen, wenn wir dieses sogenannte Ziel nicht erreichen. […] Warum passiert die ganze Show nur hier in Deutschland. […] Da gibt es noch soviel... […] Durchleuchte das IPPC, informiere dich über die Bilderberger und George Soros...es gibt Videos, wo die angstmacher... Klimaprediger und Lügner wie ein Herr Harald Lesch, mojib latif, stefan rahmstorf und Konsorten auseinandergenommen werden...die Lügen sind aufgedeckt, mit den aktuellsten Daten und Fakten bewiesen […] ...und wer profitiert von all dem. (Internes Dokument 3)

Für den Themenbereich 5 ist auffällig, dass sich dieser – mit Ausnahme der FDP – auf alle im Jahr 2019 im Bundestag vertretenen Parteien bezieht, wobei „afd“ als bedeutsamster Token für diesen Cluster identifiziert wurde. Ferner finden sich auch Bezüge zu „cdu“, „spd”, „linken“ und „grünen“. Mit Token wie „islam”, „kultur“, „migranten” und „migrat“ liegt ein deutlicher Fokus auf der Migrationspolitik, was sich beispielsweise für „italien“ in Diskussionen zum migrationspolitischen Kurs des rechtspopulistischen Politikers Matteo „salvini“ niederschlägt, zu dem auch vielfach entsprechende Nachrichten geteilt werden. Der damaligen Bundeskanzlerin Merkel wird generell eine zu migrationsfreundliche Politik unterstellt, die mitunter auch auf ‚höhere Mächte’ zurückgeführt wird: „Ich habe auch das Gefühl, das die Regierung von höheren Mächten unter Druck gesetzt wird. Anders kann ich mir den Sinneswandel von Frau Merkel nicht erklären. Sie hat einst eine Obergrenze für Migration gefordert, als sie noch nicht an der Macht war“ (Internes Dokument 6).

Während sich Topic 5 vorrangig auf die politische Dimension von Zuwanderung nach Deutschland konzentriert, verweist Themenbereich 6 auf Berichte, mit denen die Angst vor Zuwanderung geschürt wird, indem gezielt Meldungen multipliziert werden, in denen über Gewalttaten berichtet wird („angriff“, „anschlag”, „brutal“, „gewalt”, „mord“ etc.), deren Opfer „frauen“, „mädchen” und „kind[er]“ sind, und die von „asylbewerb[ern]“, „flüchtling[en]” oder „migranten“ verübt werden (bspw.: „In den Nachrichten lese ich von der nächsten Gruppenvergewaltigung einer 14jährigen durch Asylbewerber in Ulm“ (Internes Dokument 8), „21-Jährige von Südländer belästigt und brutal zusammengeschlagen“ (Internes Dokument 3). Neben der Tatsache, dass sich solche Token hauptsächlich aus geteilten Nachrichtenmeldungen speisen, werden diese von den Gruppenmitgliedern auch entsprechend kommentiert: „Ach Jungs und Mädels, ich glaube wir sollten das mordene Flüchtlings Problem .ins Auge fassen .und dehn Zusammenhalt von deutschen, stärken .weil wir wollen unsere Kinder und Frauen , wider ohne angst frei Rum laufen lassen“ (Internes Dokument 5). In der Zusammenschau mit dem als zu migrationsfreundlich empfundenen Regierungskurs und den angeblichen durch Zuwander:innen verübten Gewalttaten werden auch Verweise auf den Verschwörungsmythos des „Großen Austauschs“, der das Ziel einer Bevölkerungsreduktion in der Bundesrepublik unterstellt, geteilt:

Auf lange Sicht bedeutet diese Entwicklung [gemeint ist die Zuwanderung nach Dtl.] einen Großen Austausch der Bevölkerung in Deutschland und die Deutschen werden zur Minderheit im eigenen Land. Aufgrund von massiven kulturellen Differenzen kommt es dabei zu Bandenkriminalität, Morden, Vergewaltigungen und Terroranschlägen in für dieses Land ungewöhnlichem Ausmaß. (Internes Dokument 5)

Zusammengenommen verweisen die ersten drei Themenbereiche mit häufiger wiederkehrenden Token wie „sicher“, „treffen”, „unterstütz“, „vernetzen” und „zusammen“ auf die soziale Komponente der digitalen Interaktion. Indem sich die Mitglieder der lokalen Gruppen selbst und gegenseitig als Patriot:innen identifizieren, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, wird ein starkes Zusammengehörigkeitsnarrativ erzeugt: „Uns eint doch alle dasselbe Ziel, oder? Unterschiedliche Auffassungen zu Details gibt's immer - doch dividiert euch bitte nicht selber auseinander; Zusammenhalt ist gefragt in diesen Zeiten“ (Internes Dokument 9). Diesem positiv besetzten Narrativ werden mit den Themenbereichen 4 bis 6 Feindbilder gegenübergestellt, die beispielsweise in der „antifa“, „friday[s for] futur[e]” oder der Migration im Allgemeinen bestehen.

3.3 Sentiment-Analyse der Chatverläufe

Um ferner ableiten zu können, welche Emotionen die Diskussionen der lokalen Chatgruppen prägen und wie sich diese über die Zeit hinweg verändern, wurde eine Sentiment-Analyse durchgeführt. Hierfür wurden auf Basis des EmoLex (Mohammad & Turney, 2013, 2010) emotionale Begriffe identifiziert, welche die Gefühle Freude, Vorfreude, Vertrauen und Überraschung sowie Angst, Ekel, Trauer und Wut repräsentieren. Die ermittelten Werte wurden über alle Chatverläufe auf die Durchschnittswerte der jeweilige Emotionsdimension und auf die Anzahl der Posts pro Tag normalisiert. Somit stellt die Farbcodierung in der nachfolgenden Abbildung 3 jeweils die Zu- oder Abnahme der Verwendung emotionaler Begriffe über alle Gruppen im Vergleich zum Durchschnitt dieser Dimension im gesamten Auswertungszeitraum dar.

Veränderung der Häufigkeit emotionaler Begriffe in allen Chatgruppen im Verhältnis zum Gesamtzeitraum

Anhand von Abbildung 3 ist zunächst erkennbar, dass die Verwendung emotionaler Begriffe im Zeitverlauf größeren Schwankungen unterliegt, welche die negativen Emotionen Angst, Ekel, Trauer und Wut stärker betreffen, während die Schwankungen aufseiten der positiven Emotionen Freude, Überraschung, Vertrauen und Vorfreude in geringerem Maße ausgeprägt sind. Im Verlauf betrachtet zeigen die Daten einige markante Punkte:

So ist beispielsweise erkennbar, dass es am 11. September 2019 zu einer deutlichen Zunahme von Begriffen kam, die Wut ausdrücken, aber auch von Begriffen, die mit Ekel und Überraschung assoziiert werden. Anhand der Chatverläufe wird deutlich, dass zu dieser Zeit viele Personen in die lokalen Gruppen eintraten, welche unverhohlene Sympathie für nationalsozialistische und rechtsextreme Ideologien äußerten und Versuche unternahmen, Gruppenmitglieder für neonazistische Parteien, wie beispielsweise die NPD oder den Dritten Weg anzuwerben. Eine offene Glorifizierung des historischen Nationalsozialismus und entsprechender neonazistischer Symboliken wurde jedoch vonseiten der Gruppenmitglieder und Moderator:innen in vielen Fällen mit Ablehnung und wütenden Reaktionen begegnet. So warnte eine Moderatorin in ihrer Chatgruppe beispielsweise vor solchen Anwerbeversuchen: „Unser Netzwerk ist derzeit Opfer massiver Unterwanderungsversuche von Rechtsextremistischen Strukturen, die entgegen jeglicher Vernunft versuchen, ehrliche, saubere Patrioten für ihr ewiggestriges Weltbild zu gewinnen“ (Internes Dokument 10). In einer anderen Chatgruppe wurde bei einem solchen Anwerbeversuch der Link zu einer weiteren Telegram-Gruppe gepostet, deren Inhalte von einem Mitglied mit „Euer Antisemitismus ist abscheulich“ (Internes Dokument 7) kommentiert wurde. Vor diesem Hintergrund ist in vielen Fällen feststellbar, dass sich die Gruppen um eine Abgrenzung eines sogenannten ‚sauberen Patriotismus’ gegenüber offener Verherrlichung des Nazismus bemühen, wobei aber auch deutlich wird, dass es bei dieser Abgrenzung weniger um eine inhaltliche geht, sondern um einen befürchteten Imageverlust in der Außenwahrnehmung der Gruppen, wie beispielsweise die folgenden Zitate zeigen:

Aber es ist eben eure Sache - wenn ihr hier NS affine Leute abwerbt tut das den anderen bestimmt nicht weh. Im Gegenteil vll ist das sogar sinnvoll denn hier wären sie nicht richtig aufgehoben denke ich. Ich denke nur dass die Patrioten hier um ihre Aussenwirkung erpicht sind.. Und ihr wisst wie der Mainstream über politische Rechte/Patrioten denkt.. man will hier einfach nur abwenden, dass allen Patrioten extreme Ansichten unterstellt werden können - ihr kennt die Problematik mit öffentlichen Gruppen genauso wie wir. (Internes Dokument 5)

[Mitglied 1]:

"Heil“ hat nichts mit dem NS zu zun. Es wurde lediglich dort verwendet. Also tut mir leid, aber sowas sollte man wirklich wissen.

[Mitglied 2]:

Das ist eine Aussage die man so nicht machen sollte.

Natürlich hat "heil“ mit NS zu tun, gerade durch HH ist das alles verbrannt […]. Aber was verbrannt ist sollte man nicht nutzen, wer das nicht verstehen will und nicht kapiert welche Aussenwirkung das hat, hat wohl leider selbst zu wenig Verstand für sauberen Patriotismus!

Ich kann nur so deutliche Worte verwenden, weil einfach nur ne klare Linie nötig ist, es treiben sich zu viele Extreme Leute rum, man hat nicht die Zeit darum zu lammentieren. Mit Extremisten usw haben wir nichts zu tun! (Internes Dokument 11)

Ferner ist anhand von Abbildung 3 feststellbar, dass am 11. November 2019 gegenüber dem Durchschnitt deutlich mehr Begriffe artikuliert werden, die auf das Gefühl Ekel verweisen. Dies lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass in einer der analysierten Chatgruppen ein Kettenbrief intensiv rezipiert wurde, in dem es um eine fiktive Infektionskrankheit geht, die mit mit Verweis auf die Initialien Adolf Hitlers als „Aufwach-Grippe (A1H8)“ (Internes Dokument 7) bezeichnet wird. Die Verfasser machen als Verursacher der „Aufwach-Grippe“ ein „systembedrohende[s] Virus [verantwortlich, das] schlagartig zu einem klaren Verstand im Hier & Jetzt“ (Internes Dokument 7) führt. Dieser Kettenbrief geht mit einer starken Häufung von Begriffen wie ‚ansteckend’, ‚krank’ und ‚unheilbar’ einher, die im EmoLex mit der Emotion Ekel verknüpft sind.

Eine weitere Zunahme ekelassoziierter Begriffe ergibt sich an diesem Tag durch die gehäufte Verwendung des Wortes ‚giftig’ in einer Diskussion zum Treibhausgas Kohlendioxid. Wenigstens eines der an dieser Diskussion beteiligten Chatmitglieder äußert dabei die Ansicht, dass die Giftigkeit des Gases der Grund dafür sei, dass die Umweltbewegung ‚Fridays for Future’ eine CO2-Steuer einführen will:

[Mitglied 1]:

2.2 Kohlendioxid Nicht Endzündbar nicht Giftig auch co 2 genannt

[Mitglied 2]:

Wer behauptet denn das das Giftig ist???

[Mitglied 1]:

Unsere FFF Freunde deswegen doch die CO 2 Steuer

[Mitglied 2]:

Das sind nicht unsere Freunde denn deren Forderungen Schaden uns allen […]

Die dürfen keine neue Steuer einführen .… Wenn sie es doch tun... Geht Deutschland noch schneller zu Grunde als ohnehin schon (Internes Dokument 9)

Neben diesen chatgruppenbezogenen Gesprächsinhalten, die mit einer Änderung der Häufigkeit emotionaler Begriffe einhergehen, lässt sich jedoch auch feststellen, dass medial breit rezipierte Ereignisse wie der antisemitisch motivierte Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 zu einer Veränderung in der Häufigkeit emotionaler Begriffe führen. So ist erkennbar, dass es an diesem und dem darauffolgenden Tag zu einer stärkeren Artikulation von Gefühlen der Angst, des Ekels und der Wut kam, während am 9. Oktober 2019 Begriffe, die mit Vertrauen assoziiert sind im Vergleich zum Durchschnitt deutlich seltener artikuliert wurden. Typische Begriffe, welche für die Beschreibung der Tat genutzt werden und mit den genannten negativen Emotionen verknüpft sind, sind beispielsweise ‚schrecklich’, ‚widerlich’, ‚grausam’, ‚traurig’ oder ‚heftig’. So schreibt etwa ein Chatgruppenmitglied: „Das heute in Halle beklemmt mich“ (Internes Dokument 6). Ein anderes Mitglied erklärt: „Als ich hörte Anschlag auf Synagoge, war mein erster Gedanke nicht unbedingt rechte Gewalt. Als es dann hieß auch auf einen Dönerladen, änderte sich mein Blick. So oder so. Es ist grausam! Aber wenn es wirklich rechte Gewalt ist, dann macht das soviel kaputt“ (Internes Dokument 12).

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Mitglieder der analysierten Chatgruppen tatsächlich wütend, angewidert, traurig und ängstlich angesichts der Ereignisse in Halle waren. Die Chatverläufe zeigen aber auch, dass diese Gefühle nicht nur durch tatsächliche empathische Anteilnahme, sondern auch auf andere Weise erklärt werden können als zum Beispiel durch Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer oder Entsetzen über die Grausamkeit der Tat: Anhand der Verläufe wird auch deutlich, dass die Gruppenmitglieder häufiger negative Gefühle empfanden, weil sie in einer solchen Aktion eine Beeinträchtigung ihrer eigenen ideologischen Zielverfolgung sahen. So kamen schnell Gerüchte auf, dass es sich bei dem Anschlag um eine False-Flag-Operation gehandelt haben muss oder dass das Attentat nur dazu dienen sollte, die politisch Rechte zu spalten. Schlaglichtartig belegen das die folgenden Zitate aus den Gruppen vom 9. Oktober 2019:

  • „Und wieda Mal wird uns Patrioten der Anschlag in die Schuhe geschoben [NAME EINES CHATMITGLIEDS] spricht schon von einer False Flag Aktion des Deep States“ (Internes Dokument 2)
  • „Ich denke, das ist der Zünder für verstärkte Kontrollen von Systemkritikern. Es beginnt mit dem Kampf gegen Rechts. Nun überlegt mal, wer alles als rechts gilt...“ (Internes Dokument 3)
  • „Es macht keinen Unterschied. Der ein oder andere wird immer die Fassung verlieren, ob es obdachlose Rentner sind oder politisch verwirrte. Propagandamaterial lässt sich auftreiben und wenn nötig durch ‚FlaseFlags’ [sic!] erzeugen. Das System ist verkrebst und gehört als ganzes abgestoßen.“ (Internes Dokument 4)

4 Diskussion und Fazit

Kommunikationsdienste, zu denen auch Instant Messenger gehören, bieten aktiven rechten Gruppen eine Vernetzungsmöglichkeit, die nicht mehr auf den persönlichen Kontakt angewiesen ist. Der Instant Messenger Telegram spielt mit der Funktion, lokale Chatgruppen zu gründen, eine zentrale Rolle für die sogenannte ‚Identitäre Bewegung’. In Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden ab August 2019 zahlreiche lokale Chatgruppen gegründet, die eine Vernetzung ihrer Mitglieder im deutschsprachigen Raum ermöglichen. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags wurden 67 lokale Chatgruppen in der Bundesrepublik Deutschland mit insgesamt 2.215 unterscheidbaren Mitgliedernamen einer genaueren Analyse unterzogen. Hierbei konnte gezeigt werden, dass der Anteil der aktiven Gruppenmitglieder zwischen 25 und 33 Prozent liegt und dass über einen Analysezeitraum von etwa drei Monaten die Gruppengründung in etwa 30 Prozent der Gruppen auch zu persönlichen Treffen führte. Diese Zahlen unterstreichen das enorme Vernetzungspotenzial, welches diese Chatgruppen auch jenseits des digitalen Raums auszeichnet.

Mittels einer Topic-Modelling-Analyse konnte gezeigt werden, welche Themen in den Chatgruppen vorrangig sind: Wie zu erwarten war, dienen die Gruppen der Multiplikation emotional aufgeladener Narrative, mit denen zum Beispiel die Angst vor vermeintlich gewalttätigen Migrant:innen geschürt wird. Darüber hinaus werden auch Klimaschutzbemühungen und allgemein als ‚grün’ wahrgenommene Themen negativ aufgeladen. Gleiches zeigt sich für die Wahrnehmung etablierter Medien oder die deutsche Klima- und Migrationspolitik. Der Konstruktion dieser Feindbilder werden Narrative von Zusammenhalt, Freiheit oder Wahrheit gegenübergestellt, die es gegen die vermeintlichen Bedrohungen zu verteidigen gilt.

Wie eingangs dargelegt wurde, versteht sich die rechte ‚Identitäre Bewegung’ als aktionsorientierte Bewegung mit starkem Fokus auf die Jugend oder junge Erwachsene (Bruns et al., 2016). Ein wichtiges von der ‚Identitären Bewegung’ propagiertes Konzept ist das der sogenannten Metapolitik, das ursprünglich auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci zurückgeht, von der politisch Rechten aber ideologisch entkernt wurde, um es für die eigenen Zwecke nutzbar zu machen. Metapolitik meint in dieser Hinsicht Folgendes: „Ein geistiger Wandel müsse einem politischen Wandel vorausgehen. Zunächst bedürfe es im Diskurs eines Hegemoniegewinns der eigenen Positionen, erst danach könnten sie in Politik umgesetzt werden“ (Pfahl-Traughber, 2019, S. 7). Metapolitik im Sinne der ‚Identitären Bewegung’ vollzieht sich also zunächst durch das Erreichen einer möglichst großen Anzahl an Menschen und deren Konfrontation mit den eigenen ideologischen Vorstellungen. Da diese metapolitische Raumnahme im Diskurs auch durch geografisch markierte, aber offene Chatgruppen, wie sie Telegram ermöglicht, geschehen kann, erscheint die Nutzung dieser Möglichkeit durch rechte Akteur:innen nur folgerichtig. Somit werden semipermeable Kommunikationsräume geschaffen, die einerseits von den Gruppengründer:innen oder Bots moderiert werden können, andererseits allen Interessent:innen offenstehen. Einmal in einem solchen Raum angekommen, werden die neuen Nutzer:innen mit einer Vielzahl an Nachrichten – nicht nur von anderen Gruppenmitgliedern – sondern gerade auch mit Links zu desinformierenden oder verschwörungsmythologischen Blogs, Videos etc. konfrontiert. Je nach Größe einer Gruppe, der Tatsache, wie engmaschig diese moderiert wird, oder den Bots, welche die entsprechenden Links verbreiten, sind das mehrere Dutzend Meldungen täglich. Die Nachrichten anderer Gruppenmitglieder kommen zusätzlich hinzu. Neue Mitglieder werden mitunter also von Meldungen und Benachrichtigungen überhäuft, deren Inhalte sich insbesondere um gefühlte Bedrohungslagen wie Klimaschutzbemühungen, die deutsche Migrationspolitik oder vermeintlich von Migrant:innen verübten Gewaltverbrechen auseinandersetzen: Dieses Vorgehen dient dem Aufbau dichotomer Gut-Böse-Schemata und bedient sowohl eine emotionale als auch eine ideologische Polarisierung der Gruppenmitglieder. Diese Polarisierung im Rahmen des metapolitischen ‚Kulturkampfes’ kann wie folgt beschrieben werden:

Dieser Kulturkampf basiert auf einem streng dichotomen und manichäischen Weltbild. Die Welt ist ein Kampf von Gut gegen Böse: ‚Wir’ gegen ‚die Anderen’. Dabei erfolgt eine moralische Aufladung in das gute ‚Wir’ und die bösen ‚Anderen’, die Legitimität verleiht – ein Kampf um Ressourcen oder Macht ist schwerer zu legitimieren als ein Kampf gegen das Böse, von dem eine permanente Bedrohung für das gute ‚Wir’ ausgeht. (Strobl, 2021)

Wie anhand der vorgelegten Ergebnisse deutlich wurde, bezieht das ‚Gute’ dieses Kampfes insbesondere die anderen Mitglieder einer Chatgruppe und im weiteren Sinne auch die ‚Identitäre Bewegung’ mit ein. Ferner gehören dazu beispielsweise auch ‚alternative’ Informationsquellen, die in hohem Ausmaß in diesen Gruppen rezipiert und multipliziert werden und als ‚unabhängige’ Dritte die moralische Legitimität der propagierten Ideologeme über den Mechanismus eines vermeintlichen Autoritätsarguments untermauern sollen.

Die durchgeführte Sentiment-Analyse zeigt, dass am Tag des Anschlag von Halle, dem 9. Oktober 2019, und dessen Folgetag insbesondere die Gefühle Wut und Ekel stärker artikuliert wurden als im Durchschnitt des Analysezeitraums. Ob die beobachteten starken, negativen Emotionen auf eine empathische Anteilnahme oder auf die verstärkte gefühlte Bedrohung eigener ideologischer Ziele zurückzuführen sind, kann auf Basis des analysierten Korpus nicht abschließend beantwortet werden. Ausgewählte Posts aus den Chatgruppen unterstreichen die Tatsache, dass beide Erklärungsansätze valide sind. Insgesamt erscheint es jedoch angesichts der Zunahme negativer Emotionen in der Sentiment-Analyse nicht sinnvoll, diese Werteveränderungen losgelöst von den Ereignissen des 9. Oktobers 2019 zu betrachten. Darauf verweisen auch die Analysen von Niedick (2020), der auf Twitter an diesem Tag einen starken Anstieg von Tweets von Abgeordneten und Verbänden der AfD nachweist, die Token wie ‚antisemit*‘, ‚juden*’, ‚jüdisch*’ und ‚israel*’ enthalten. Zusammengenommen verweisen die Daten zu Vernetzungsaktivitäten außerhalb der gegründeten lokalen Chatgruppen sowie die Ergebnisse der Topic-Modelling- und Sentiment-Analyse darauf, dass die Chatgruppen in jedem Fall geeignet sind, einer beginnenden oder fortschreitenden Radikalisierung der Gruppenmitglieder Vorschub zu leisten.

Eine wichtige Limitation des vorliegenden Beitrags ergibt sich aus dem Umstand, dass sowohl die genutzten Stoppwort-Listen als auch das EmoLex (Mohammad & Turney, 2013, 2010) im englischsprachigen Raum entwickelt wurden, sodass die Übertragbarkeit dieser Listen auf deutsche Texte – insbesondere solche mit geringer orthografischer und grammatikalischer Güte – kritisch hinterfragt werden sollte. Entsprechende Hinweise lieferte die Inspektion des präprozessierten Korpus, da sich in diesem noch zahlreiche Begriffe fanden, die beispielsweise aufgrund sprachspezifischer irregulärer Konjugationsformen nicht als Stoppwörter erkannt wurden. Mit vergleichbaren Unsicherheiten ist auch die vorliegende Sentiment-Analyse zu betrachten: Semantische Nuancen verschiedener Begrifflichkeiten in unterschiedlichen Sprachen könnten diese beeinträchtigt haben.

Eine weitere Limitation der Sentiment-Analyse ist darin zu sehen, dass den untersuchten Chatverläufen keine Kontrolldaten gegenübergestellt werden können, die eine quantitative Aussagen darüber zulassen würden, wie stark oder schwach eine Emotion artikuliert wird. Ein Vergleich zwischen verschiedenen hier untersuchten Chatgruppen ist ebenfalls nicht sinnvoll durchführbar, da es gerade im Falle kleinerer Chatgruppen immer wieder Tage gibt, an denen keine Nachrichten gepostet wurden; gegen einen kürzeren Vergleichszeitraum spricht wiederum, dass die gewählte Normalisierungsmethode tatsächlich bestehende Unterschiede zwischen den Gruppen im Hinblick auf die Häufigkeit emotionaler Begriffe nicht mehr auflösen könnte. Um diese Einschränkung zu kompensieren, wurde entschieden, auf die Darstellung absoluter Zahlenwerte bei der Sentimentanalyse zu verzichten und anstelle dessen Veränderungen zum Durchschnitt des gesamten Auswertungszeitraums zu verschiedenen Zeitpunkten mit markanten Werteänderungen darzustellen. Daraus ergibt sich für künftige Sentiment-Analysen von Chatverläufen die Erhebung entsprechender Kontrolldaten, die ebenfalls den gleichen Analysezeitraum abdecken.

Eine besondere Herausforderung im Zuge der durchgeführten Analysen ergibt sich in Hinblick auf forschungsethische Aspekte: So stellt das genutzte Korpus einerseits eine bedeutsame Ressource dar, die auch von anderen Forscher:innen im Bereich der Social-Media- oder Rechtsextremismusforschung gewinnbringend genutzt werden könnte; andererseits ist zu bedenken, dass die Daten zum Erhebungszeitpunkt nur über die Telegram-Weboberfläche gesichert werden konnten, sodass persönliche Angaben der Chatgruppenmitglieder, zu denen unter anderem Profilbilder, Klarnamen oder Anschriften gehören, untrennbar mit den Chatinhalten verknüpft sind und eine Anonymisierung der Daten ohne Präprozessierung nicht möglich ist. Um die Identität der Mitglieder zu schützen, ist eine Weitergabe der für die vorliegenden Analysen genutzten Rohdaten daher aus datenschutzrechtlichen Erwägungen heraus nicht möglich.

Die genannten Limitationen erscheinen jedoch angesichts der Tatsache, dass die hier vorgelegten Ergebnisse in sich konsistent sind und gut zu vergleichbaren Befunden aus der aktuellen Forschungsliteratur passen, vertretbar. Zusammenfassend können die vorgelegten Daten neben den inhaltlichen Erkenntnissen zur methodischen Diversifizierung von Text-Mining- und Topic-Modelling-basierten Ansätzen in der deutschen Rechtsextremismusforschung beitragen.

5 Danksagung

Ausdrücklicher Dank gebührt DS, FJ, PH und SK, welche diesen Beitrag mit wertvollem Feedback zu den vorgelegten Analysen und anregenden Diskussionen bereichert haben. Ferner danke ich FJ und RK für die kritische Durchsicht des Manuskripts.

Datenverfügbarkeit

Die für den vorliegenden Beitrag genutzten Daten können aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht öffentlich zur Verfügung gestellt werden.

Finanzierung

Der vorliegenden Arbeit liegt keine materielle oder immaterielle Fremdförderung zugrunde.

Interessenskonfliktstatement

Der Autor erklärt, dass keine potenziellen Interessenskonflikte bestehen.

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  1. Das entsprechende YouTube-Video mit dem Titel „Rechte Volksvernetzung! Vernetzt euch mit lokalen Telegram-Gruppen“ ist mittlerweile nicht mehr verfügbar (Stand: Dezember 2021). In diesem Video wird gesagt: „Ich habe eine elektrisierende Neuigkeit; eine neue Funktion auf Telegram gerade gesehen, die ich […] verbreiten muss, im patriotischen Lager, damit wir die Ersten sind, die sie nutzen können. Sie könnte unsere Vernetzungstätigkeit revolutionieren“ (Internes Dokument 1).↩︎

  2. Nachfolgend ist zu beachten, dass im Zuge des Text Mining trunkierte Begrifflichkeiten durch einen Asterisk (*) gekennzeichnet sind.↩︎

  3. Im EmoLex werden die acht Emotionen mit den folgenden Begriffen bezeichnet: anger, fear, sadness, disgust, anticipation, trust, surprise und joy (Mohammad & Turney, 2013, 2010).↩︎

  4. Im Falle von Abbildung 2 gilt es zu beachten, dass die dargestellte Mitgliederzahl die zuvor genannten 2.215 weit übersteigt, was der Aggregationsebene der Daten geschuldet ist: In allen aggregierten Mitgliederlisten (n = 67) gab es 2.215 unterscheidbare Nutzernamen, während die Zahl bei Betrachtung jeder einzelnen Mitgliederliste aufsummiert mit etwa 4.000 wesentlich höher ist.↩︎

  5. Dieser agiert unter dem Pseudonym „neverforgetniki“, das in Topic 3 auf dem 35. Platz der relevanten Token erscheint.↩︎

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1
1
1 von Crossref erfasste Zitate
  
  1. Spielend spalten?!
    Benjamin Möbus (2024)
    MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung
    DOI: 10.21240/mpaed/59/2024.04.09.X

1 von Semantic Scholar erfasste Zitate
  
  1. Spielend spalten?!
    B. Möbus (2024)
    MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung
    DOI: 10.21240/mpaed/59/2024.04.09.x

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2022-01-10

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2022-05-06

Veröffentlicht

2022-06-10