„Unregierbar gemacht?“
Pandemie-Tracking und Datenpolitiken in autoritären Geflechten
DOI:
https://doi.org/10.15460/kommges.2023.24.1.866Schlagworte:
Digitalisierung, Autoritarismus, Digital-autoritäre Regierungsmacht, Pandemieüberwachung, Türkei, Datafizierung, Datenpolitiken, Corona-AppsRedaktion und Begutachtung
Abstract
In diesem Artikel stehen die Wechselwirkungen zwischen einer autoritären Präsidialregierung und dem Management von Pandemiedaten im Fokus. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Analyse der Datenpolitiken in diesem autoritären Kontext unter Einsatz von Hayat Eve Sığar (HES), dem türkischen Kontaktverfolgungs- und Proximitysystem sowie der dazugehörigen Anwendung. Ethnografisch werden die komplexen und sich ständig verändernden Landschaften viraler Daten erkundet. In diesem Zusammenhang wird verdeutlicht, wie die Frage der (Un-)Regierbarkeit inmitten der Pandemie durch die politische Gestaltung und Nutzung von Daten wahrgenommen, verhandelt und herausgefordert wird. Mit einem speziellen Fokus auf autoritäre Geflechte trägt dieser Beitrag zur Analyse von Datenpolitiken in digitalen, datengesättigten Gesellschaften bei. Autoritäre Geflechte, so das Argument, formen sich in Zeiten von Krisen wie der viralen Pandemie flexibel neu. Diese wirken subtil und schleichend auf die Machtverhältnisse im Zusammenhang mit Daten ein und beeinflussen die datenpolitischen Auseinandersetzungen, bleiben jedoch oft im Verborgenen.
1 Einleitung
Was passiert, wenn eine autoritäre Präsidialregierung auf ein pandemisches Datenmanagement trifft? In diesem Artikel gehe ich der Frage nach und analysiere die datenpolitischen Auseinandersetzungen im Kontext der Pandemieüberwachung in der Türkei. Die Covid-19-Pandemie wurde vor allem durch numerische und datenbasierte Informationen erlebt, noch bevor die breite Bevölkerung von der Virusinfektion betroffen war. Um sie effektiv zu bewältigen, wurden weltweit Datentechnologien in bisher ungekanntem Ausmaß eingesetzt. Diese umfassten den Einsatz von Smartphones, Tracking-Apps, QR-Codes, Proximity-Systemen und anderen digitalen sowie sensorischen Mitteln zur Überwachung, Kontrolle und Bekämpfung der Pandemie. Die türkische Regierung unter der Führung der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) reagierte auf die Krise, indem sie verstärkt auf Überwachungs- und Datentechnologien setzte und die Pandemie als ein digital zu steuerndes Phänomen kodifizierte. Im April 2020 führte das Gesundheitsministerium das Überwachungs- und Proximity-System Hayat Eve Sığar (HES) mit einer zugehörigen App zur Pandemieüberwachung und Datenverwaltung ein. Die Digitalisierung wurde als „Rückgrat des Kampfes gegen die Pandemie“1 proklamiert und HES als ein zentrales Instrument präsentiert, das in Echtzeit das Infektionsgeschehen verfolgen sowie den gesteigerten Bedarf an Echtzeit-Datenerfassung decken sollte. HES wurde als nationales Digitalisierungsprojekt bezeichnet und in die digitalen Dateninfrastrukturen von e-Staat und e-Gesundheit integriert. Es diente der Überwachung und Verwaltung von Pandemie- und Quarantänevorschriften sowie der Bereitstellung von Informationen und Daten. Jede*r Bürger*in wurde verpflichtet, einen individuellen QR-Code, den sogenannten HES-Kodu, bei sich zu tragen. HES erzeugte insbesondere in Verbindung mit der App und den obligatorischen QR-Codes kontinuierlich bewegungs- und personenbezogene Daten. Dies half, das Infektionsgeschehen in Echtzeit zu verfolgen, Metadaten zu generieren und zu verknüpfen, Risiken algorithmisch zu berechnen und die Ausbreitung des Virus zu kartieren. Es entstanden neue datenbezogene Verflechtungen und datenpolitische Entwicklungen.
Im Zuge der Krise wurde einmal mehr deutlich: Zahlen und Daten sind Träger von Lebenswelten und Politik. Sie prägen die (Un-)Regierbarkeit und auch den gesellschaftlichen Umgang damit. Ihr Existieren ist ebenso wie ihr Fehlen politisch. Als erste Pandemie datengesteuerter Gesellschaften (Milan, Treré & Masiero, 2021) ließ die Corona-Krise Fragen nach der Rolle von Daten im Hinblick auf die Verteilung von Mitteln und Instrumente zur Ausübung von Macht aufkommen. Das Ausmaß von Überwachung, Quantifizierung und Datafizierung, in die staatliche Institutionen und Regierungen investieren, wurde deutlich. Als biopolitische Eingriffe veränderten die staatlichen und technisierten Maßnahmen zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 nicht nur die Wahrnehmung von Staatlichkeit und Öffentlichkeit. Sie wirkten sich auch auf Machtgeflechte zwischen Technik, Politik und Daten aus. Dies war insbesondere im Hinblick auf die autokratische Aushöhlung demokratischer Strukturen und die autoritären Herausforderungen von Konzepten der (Un-)Freiheit, (Un-)Sicherheit und (Un-)Regierbarkeit von Bedeutung. Dabei spielten die digitalen und biopolitischen Verschiebungen eine erhebliche Rolle. Die rasant und kontinuierlich expandierenden digitalen, datafizierten Regierungssysteme waren daran maßgeblich beteiligt. Sie ermöglichen neue Formen der Überwachung, Verdichtung und Verteilung von Informationen und Daten. Zugleich initiieren sie Debatten über die digitale und datenbezogene Regierungsmacht – sowohl in demokratisch als auch in (soft-)autoritär regierten Ländern (Lyon, 2022; Polat, 2020a; Waisbord & Soledad Segura, 2021).
In diesem Artikel betrachte ich die Pandemie als ein besonderes „datenpolitische[s] Moment“ (Hoeyer, 2023, S. 183). Es machte die Bedeutung von Daten und ihren Technologien sichtbar, darüber hinaus, wie sie politische Machtgeflechte beeinflussen und neue Formen politischer Auseinandersetzungen ermöglichen. Damit schließt meine Analyse an „die Anthropologie der Daten“ (Douglas–Jones, Walford & Seaver, 2021) und kritische Datenstudien an, die sich mit Momenten und Folgen von „intensivierter Datenbeschaffung“ (Hoeyer, 2023), „Datenverflechtungen“ (Kitchin & Lauriault, 2014) und Konsequenzen der Datafizierung auseinandersetzen (Boellstorff & Maurer, 2015; Kitchin & Lauriault, 2014; Rottenburg, Merry, Park & Mugler, 2015). Anhand dieses Moments wurde ethnografisch greifbar, „wie Daten und ihre Technologien aufgenommen, umgesetzt und manchmal neu verwendet werden“ (Ruckenstein & Schüll, 2017, S. 265), ebenso, wie digitale und datenbezogene Regierung erlebt und ausgehandelt wird. Am Beispiel der Türkei konzentriere ich mich auf dieses Moment und erkunde ethnografisch Praktiken und Dynamiken digitaler, datenbezogener (Un-)Regierbarkeit während der Pandemie unter der Präsidialregierung der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP). Es ist ein anthropologisches Engagement mit Datenpolitiken, das heißt Politiken von, mit und in Daten (Koopman, 2019; Ruppert, Isin & Bigo, 2017), unter schwierigen biosozialen und politischen Bedingungen. Um sie zu erkunden, tauche ich in die hochgradig politisierten Landschaften „viraler Daten“ – im doppelten Sinne der Viralität – als Vorstellungen von der Ausbreitung des Virus sowie von digitalen Informations- und Datenturbulenzen (Leszczynski & Zook, 2020; Polat, 2020a) ein. Empirisch stütze ich mich auf mein Forschungsmaterial, das ich in der Hochphase der Covid-19-Krise in den Jahren 2020 und 2021 teilweise aus der Isolation und via digitaler Kopräsenz einer Ethnografie in den eigenen vier Wänden generierte. Unter den pandemischen Bedingungen musste ich – wie viele andere auch – eine Art „experimentelles Eintauchen“ (Hine, 2017) in die digital und analog verflochtenen „überwachten Virus-Landschaften“ (Zurawski, 2020, S. 80) in der Türkei vollziehen. Neben der „#Ethnography“ (Bonilla & Rosa, 2015) zu den damals pandemiepolitisch relevanten Hashtags – darunter #hayatevesigar, #HesKodu und #Yönetemiyorsunuz (#youcannotgovern) – nutzte ich algorithmische Covid-Maps der HES als Methode, um die Datenlandschaften samt den in ihnen entstehenden und verankerten Politiken mit Daten zu erfassen.
Dieser Artikel ist wie folgt aufgebaut: Zunächst skizziere ich die theoretischen und empirischen Zugänge und erläutere meinen ethnografischen Zugriff. Danach beschreibe ich, wie die Pandemie in der Türkei auf autoritäres Regieren im Ausnahmezustand traf. Im empirischen Hauptteil analysiere ich, wie das Pandemiemanagement zu einem Politikfeld der Zahlen, Codes und Daten wurde und welche Rolle Datentechnologien dabei spielten. Drei wesentliche Aspekte hebe ich hervor: Erstens, HES fungierte ähnlich wie andere Tracking- und Proximity-Systeme als eine „soziotechnische Assemblage“ (Liu & Graham, 2021). Es koppelte Technologien, Infrastrukturen, Daten, Menschen und das Virus aneinander und erzeugte komplexe Landschaften viraler Daten, in denen die (Un-)Regierbarkeit der Pandemie erlebt, ausgehandelt und ausgefochten wurde. Zweitens, die Pandemieüberwachung wurde in die explizit autoritär-autokratischen – und nicht rein technokratischen – Politiken mit und von Daten eingebettet. Sowohl die Existenz als auch das Fehlen viraler Daten beeinflussten diese Politiken. Wie mein Material illustriert, prägte es auch die alltäglichen Erfahrungen mit autoritärer Regierungs- und Überwachungsmacht in Krisenzeiten. Im Gegensatz zum Mainstream-Verständnis ist diese Macht keineswegs absolut. Vielmehr beruht sie auf einer flexiblen Verflechtung von Regierungsstilen, Technologien, Biopolitiken, Diskursen, Institutionen, staatlichen und nichtstaatlichen Datenpraktiken und -infrastrukturen sowie populistisch-autoritären Unberechenbarkeiten, was ich als „autoritäre Geflechte“ (Polat, 2020b) verstehe. Drittens, und damit eng verbunden, waren diese Geflechte in viralen Landschaften besonders ausgeprägt. Im Laufe meiner Forschung konnte ich beobachten, wie sie die datenpolitischen Strategien der (kalkulierten) Unregierbarkeit durch das Zusammenspiel von autoritärer Unberechenbarkeit und pandemischer Ungewissheit prägten.
2 Relationale Zugriffe: autoritäre Geflechte, Datenpolitiken und Ethnografie
2.1 Von der Biopolitik zu Datenpolitiken
Die Corona-Krise rückte die Grenzen und die Schattenseiten der Digitalisierung als gesellschaftliches und sozialwissenschaftliches Problem in den Vordergrund. Digitales Regieren in Krisen- und Ausnahmesituationen gehörte in besonderem Maße dazu. Einschlägige Analysen problematisierten die pandemiebedingte Beschleunigung der Digitalisierung und Datafizierung von Gesundheits-, Sicherheits- und Krisenpolitiken. In Anlehnung an das Konzept der Biopolitik (nach Foucault) wurden dabei neue Formen digitalpolitischer Verschiebungen hervorgehoben. Es geht um Praktiken und Prozesse der Überwachung und Quantifizierung, die auf der Extraktion, Akkumulation und Analyse von (Personen- und Verhaltens-)Daten beruhen. Dabei wird auf die Ausweitung und Verfestigung diskursiver, infrastruktureller und informativer Macht privater Technologieunternehmen verwiesen, die in den vergangenen Jahren, insbesondere aber während der Corona-Krise, von Shoshana Zuboff (2018) unter den Begriff Überwachungskapitalismus gefasst wurden. Maschewski & Nosthoff (2022) attestieren eine überwachungskapitalistische Biopolitik. Am Beispiel von globalen Technologieunternehmen wie Apple beschreiben sie diese als Folge einer Ausweitung der „Wearable-basierten Infrastruktur(en)“, die „menschliche Verhaltens- und Vitaldaten in Datenbanken erfasst und bewirtschaftet“ und in einem „eindringlichen, kybernetisch orchestrierten Modus der Biopolitik“ endet (ebd., 442). Tragbare Geräte und Algorithmen bringen neue Sichtweisen von Individuum und Gesellschaft in Gesundheitskrisen hervor. In Datenbeziehungen lassen sich „signifikante Souveränitätsverschiebungen“ beobachten, die „den Einfluss der Konzerne und die Macht ihrer technischen Systeme realpolitisch erfahrbar machen“ (ebd. 2022, 488). Im Mittelpunkt steht die Frage, wie globale Technologie- und Datenkonzerne auf gesellschaftspolitische Krisenlösungen einwirken und wie dadurch die technischen und diskursiven Rahmenbedingungen „demokratischer Deliberation“ an den Fragen von Partizipation, Rechenschaftspflicht, Transparenz und Datensouveränität bis hin zur informationellen digitalen Selbstbestimmung manipuliert werden (können). Die durch die Pandemie beschleunigte Digitalisierung steuert demnach dazu bei, die oft undurchsichtigen Machtkonstellationen zwischen Techno-Unternehmen, Individuen und Staat zu verfestigen und die staatliche Macht auf überwachungskapitalistische Mechanismen und technisierte Kontroll- und Datafizierungsprozesse zu verlagern. In Foucaultscher Lesart verstehen sie Biopolitik als ein „Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten“, als eine flexiblere Konstellation, die neue Techniken der „Regierung der Bevölkerung“ ermöglicht (Foucault, 2005, S. 256; Maschewski & Nosthoff, 2022, S. 442).
Solche Analysen konzentrieren sich auf die „technologische Seite“, so Liu & Graham (2021), das heißt auf die Interessen und Praktiken großer Technologie- und Datenunternehmen. Häufig werden die Folgen für (liberal-demokratische) Diskurs- und Handlungsräume analysiert. Die Dynamiken und Widersprüche in den Praktiken und Perspektiven von Menschen und Akteur*innen, die in unterschiedlichen soziopolitischen Kontexten mit Daten, Technologien und Infrastrukturen interagieren, werden dabei nicht angemessen berücksichtigt. Auf der „staatlichen Seite“ wird die datengetriebene Biomacht erfasst, die auf Mechanismen der Selbst- und Fremdüberwachung sowie der Datafizierung beruht. Es sind staats- und machtzentrierte Analysen, die staatliche Überwachungstechniken als biopolitische Steuerungsinstanz begreifen. Wie Lyon (2022) neben vielen anderen betont, handelt es sich um komplexe Mechanismen, die durch verschiedene Logiken und Technologien des Zwangs, der Überwachung und der Einflussnahme verwoben sind. Viele Regierungen handelten „in einer klandestinen Weise“ (ebd.). Sie fällten Entscheidungen hinter verschlossenen Türen, auch in Bezug auf die von ihnen gewählten Trackingmethoden und den Umgang mit Datenschutzregelungen, Privatsphäre, Transparenz und Rechenschaftspflicht. Dadurch wurden Bürgerrechte, Freiheiten und Menschenrechte zurückgedrängt oder „gefährdet“ – sowohl in „demokratischen“ als auch in „autoritären“ Kontexten (Lyon, 2022, S. 135). Im Verlauf der Pandemie wurden die Politiken und Policies neu geordnet – obgleich in unterschiedlicher Intensität und mit variierenden gesellschaftspolitischen Konsequenzen.
Der allgemeine Rahmen der Gouvernementalität und Biopolitik suggeriert (neo-)liberale Logiken und Technologien der Regierung durch und von Daten. In den öffentlichen und wissenschaftlichen Diagnosen wurden zwei biopolitische Logiken einander gegenübergestellt: Die demokratische Biopolitik und die autoritäre Biopolitik (Sotiris, 2020). Im Kern ging es um eine an Foucault angelehnte Abschätzung der Folgen pandemischer Maßnahmen und Lockdown-Strategien. Sie stellten die Mechanismen der Disziplinarmacht und der panoptischen Maschinerie, das heißt der Einsperrung, der staatlichen Reglementierung, der Überwachung und der Quantifizierung in den Mittelpunkt. Zentral war die Frage, wie und auf welche Weise Praktiken der Überwachung und Quantifizierung den Ausbau repressiver Macht und autoritärer Tendenzen steuern und welche Rolle dabei überwachungskapitalistische Visionen und Logiken spielen. Dabei wurde die Tendenz deutlich, das Dilemma als eines zwischen autoritärer Biopolitik und liberalem Vertrauen in die rationale Entscheidung des Individuums zu simplifizieren. Solche biopolitischen Gegenüberstellungen implizieren Unterschiede in der Macht über Daten. Sie verweisen auf Praktiken, die demokratische Möglichkeitsräume im heterogenen, datafizierten Alltag und in der Politik einschränken oder ausweiten. Tendenziell rahmen sie allerdings datenbezogene Rechte wie die Macht über Daten oder das Recht auf Wissen als Privilegien, die über digital- und überwachungskapitalistische Datenwelten vermittelt und durch individuelle Praktiken, Datenschutzregelungen und datenregulative Rahmungen gewährleistet werden können.
Im Gegensatz zu einem zeitgenössisch-kritischen Analyserahmen, der dazu neigt, die Corona-Krise und die Pandemieüberwachung als Biopolitik, das heißt als Gesundheits- und Bevölkerungs-Management zu betrachten, konzentriere ich mich auf Datenpolitiken in einer global geteilten Situation. Aus sozial- und kulturanthropologischer Sicht ist die Regierbarkeit in die globalen Überwachungs- und Datenregime eingebettet. Zudem zeigt sie sich mit den „reduktive(n), fragmentierende(n), dekontextualisierende(n) Effekte(n) der Quantifizierung“ (Ruckenstein & Schüll, 2017, S. 266) verwoben. Daher macht die Analyse es erforderlich, über staats-, macht- und technologiezentrierte Perspektiven hinauszugehen (Kitchin, 2020; Kitchin & Lauriault, 2014) und die Regierbarkeit als bio-daten-politische Kapazität kritisch zu betrachten.
In Krisenzeiten geht es darum, was zählt und gezählt wird, um etwas (digital) regierbar zu machen. Die digital wie analog verflochtene Datafizierung der Krisen setzt dabei auf „mehr und mehr Daten“ (u. a. Big Data), begleitet von dem Credo, dass mehr Daten mehr Wahrheit bedeuten (Bell, Gould, Martin, McLennan & O’Brien, 2021). Daten, ob Big oder Small, sind seit jeher ein wichtiges Instrument von Regierungs- und Verwaltungsapparaten. Von der Steuerung bis zur Reglementierung (in Form von Volkzählungen, Bevölkerungs- und Geburtenkontrollen sowie Wahlen bilden sie einen festen Bestandteil von Regierungs- und Politikentscheidungen. Daten und neuartige digitale Technologien prägen die staatlichen Blicke auf Situationen und bilden dabei die Grundlage für die Rechtfertigung bestimmter Handlungen. Datenmacht geht über eine reine Dokumentation, Klassifizierung und Steuerung hinaus. Macht über Daten und Dateninfrastrukturen kann neue partizipative und antizipative Möglichkeiten bieten, aber auch die vorherrschenden Machtkonstellationen und Datenungerechtigkeiten festigen (Bell et al., 2021; Benjamin, 2019). Neue Systeme der Informationsüberwachung, -verdichtung und -verteilung fügen neue Komplexitäten zu dieser Macht hinzu. Auf eine neue Art und Weise knüpfen sie diese an die historischen und aktuellen Herausforderungen in den Bereichen Partizipation, Transparenz, Souveränität und demokratischer Deliberation an.
In seinem Buch „How We Became Our Data“ beschreibt Colin Koopman (2019, S. 22), dass diese „ganz andere Operationen der Macht“ hervorbringen und „Info-Macht“ ändern. Biopolitik, wie Foucault sie verstand, kann diese Operationen und auch die damit einhergehenden Verschiebungen allein nicht vollständig erfassen. Sie sind weder auf die Politik der Disziplin noch auf die Biopolitik, die staatliche Souveränität oder die gängigen Theorien der demokratischen Deliberation reduzierbar. Stattdessen schlägt er vor, über überfrachtete Konzepte wie Biopolitik hinauszugehen und Verwobenheiten von Daten(praktiken), Politiken und Macht empirisch wie theoretisch anders zu erzählen. Datenregimes sind zu einem komplexen „Lebensraum“ geworden, in dem Menschen als „Datensubjekte“ besonders für den Staat systematisch „lesbar“2 gemacht werden. Andere, etwa Ruppert et al. (2017), fragen danach, wie Menschen in diesen Regimes zu „Datenbürger*innen“ werden, wie (unterschiedlich) sie mit der datenbasierten Selbst- und Fremdregierung umgehen und wie divers sie mit den ihnen inhärenten Politiken von Daten interagieren. Daten haben für sie „eine performative Kraft“; sie sind „Objekt[e], deren Produktion diejenigen interessiert, die Macht ausüben“ (Ruppert et al., 2017, S. 2). Im weitesten Sinne geht es um Data Politics, die in den kritischen Datenstudien zu einem neuen Forschungsfeld werden (Bigo, Isin & Ruppert, 2019; Koopman, 2019). Als Konzept bezieht sich Datenpolitiken nicht auf ein enges Verständnis von Praktiken im Bereich politischer und bürokratischer Situationen. Es geht auch nicht um datenbezogene Aushandlungen in politischen Institutionen oder in biopolitischen Staats- und Verwaltungsapparaten. Vielmehr werden Praktiken und Politiken als Teil von sozio-technischen Wechselbeziehungen untersucht. Gemeint sind die Politiken von, mit und in Daten. Koopman Koopman (2019, S. 38) sieht sie „so tief in uns verankert, dass wir dazu neigen, ihr Wirken meist nicht zu bemerken“. Andere zeigen, dass sie kaum unbemerkt bleiben. Besonders in Bezug auf Big Data – etwa in gesundheits- und krisenpolitischen Prozessen – können Daten erst „durch den performativen Prozess ihre eigene Politik“ (Blouin, 2020, S. 320) erhalten. Ihr Fehlen ist keine unschuldige Tatsache, sondern „ein politischer Akt und hat politische Konsequenzen“ (ebd., S. 323). Datenpolitiken finden sich nicht nur in staatlich generierten Datensätzen oder Projekten – beispielsweise E-Staaten, digitalen Punktesystemen (in China und woanders) oder algorithmischen Bürokratien. Daten werden gemacht, wenn sie „als Einsatz“ oder „als Repertoire“ strategisch mobilisiert sind oder „auf dem Spiel stehen“ (Beraldo & Milan, 2019).
In Anlehnung an diese Literatur richte ich den Fokus auf Datenpolitiken. Analytisch und empirisch folge ich den dort entwickelten relationalen Zugriffen auf Datenpolitiken. Dabei geht es, wie ich weiter unten ausführen werde, um die digital und analog verflochtenen Prozesse und Praktiken, in denen „Daten und Politiken untrennbar [miteinander verwoben] sind“ (ebd., S. 2). Daten und ihre Politiken traten uns in der Corona-Krise – ähnlich wie in früheren Krisen – in verschiedener Gestalt entgegen, manchmal als ein sinnvolles Werkzeug für Care oder für Rechte, manchmal als ein Fakt, ein Fake oder eine schwer regierbare Sache von Leben und Tod. Was machen Daten politisch und was macht sie politisch? Wie und in welchen Konstellationen von Macht, Technologie, Alltag und Krisen werden sie regierbar, verhandelbar oder gar gefährlich (gemacht)? Begünstigt oder verschleiert ihr Einsatz (soft-)autoritäre Aushöhlungen (liberal-)demokratischer Strukturen und Prinzipien? Unter welchen Umständen geschieht dies? Können daraus autokratische Konfigurationen entstehen? Diese Fragen stellten sich in einigen Kontexten mit größerer Dringlichkeit als in anderen. Sie lassen sich kaum unter biopolitischen Gesichtspunkten zum datenbezogenen Regieren beantworten. Auch der Fokus auf Datenpolitiken allein ist nicht ausreichend, denn er rückt Praktiken, Infrastrukturen und Vorstellungen von Daten in den Vordergrund, die mit Konzepten wie Datenschutz und Datensouveränität assoziiert werden oder überwachungskapitalistische Universalismen vermitteln. Wenn ich hier von Daten und ihren Politiken rede, dann geht es mir nicht nur um die Instrumentalisierung in einer viral und politisch schwierigen Situation. Vielmehr richte ich meinen Blick darauf, was ich als „autoritäre Geflechte“ (Polat, 2020b) verstehe.
2.2 Zu Datenpolitiken in autoritären Geflechten
In global und biosozial geteilten „Situationen“ (Zigon, 2015) treten diese Geflechte besonders sichtbar zutage. Die Covid-19-Pandemie betrachte ich als eine Situation, in der Datenpolitiken ethnografisch greifbar werden. Sie war durch globale Gefüge von digitalem Kapitalismus, staatlicher Überwachung, Grenzregimes, bio- und datenpolitischen Ökonomien und national-lokalen Realitäten geprägt. Situationen, wie Zigon sie am Beispiel von Drogenkriegen darlegt, zeigen „lokale Komplexität innerhalb der gemeinsamen Bedingungen“ und bringen die „fließenden“ und „emergierenden“ Machtkonstellationen zum Vorschein (ebd.: 501ff.). Diese Situationen stellen „totalisierte Assemblagen“ dar, die „Bedingungen für mögliche Arten des Seins, Handelns, Sprechens und Denkens“ prägen. Die Ethnografie viraler Daten(politiken) ermöglicht eine differenzierte Perspektive auf solche Situationen und auch auf die Verflechtungen von Praktiken, Technologien, Infrastrukturen, Gesetzen, Diskursen, soziotechnischen Vorstellungen, Machtansprüchen und Unberechenbarkeiten. In Anlehnung an den klassischen, mittlerweile vielfach benutzten Begriffe der Assemblage (Ong & Collier, 2005) und die assemblageartigen Zugriffe (Zigon, 2015) richte ich mein Augenmerk auf die wechselseitigen Verflechtungen von digitalen Technologien, Datenpolitiken, technokratischen Ansätzen, totalisierenden, auf Überwachung basierenden Biopolitiken und autoritär-autokratischen Praktiken wie Informationsmanipulation, antidemokratischer, willkürlicher und einseitiger Überwachung sowie Kontrolle, Verbot und Repression (Polat, 2020a, 2020b). Dabei setze ich digitale Überwachungssysteme wie HES zu Datenpolitiken im Kontext von Autoritarismus in Beziehung.
Der Begriff autoritäre Geflechte bezeichnet diese flexiblen und undurchsichtigen Verstrickungen, die auf verschiedene politische Felder und Situationen einwirken. Sie sind nicht starr, sondern flexibel und unscharf. Ähnlich wie soziotechnische Verflechtungen implizieren sie „Heterogenität, Kontingenz, Instabilität, Partialität und Situiertheit“ (Ong & Collier, 2005, S. 12). Sie sind weder Staatsapparate noch ersetzen sie einen repressiven oder demokratischen Staatsapparat. Zunächst unterscheiden sie sich darin, dass sie anders als Staatsapparate funktionieren. Sie sind durch kalkulierte Unberechenbarkeit, systematische Willkür, autokratische Manipulation, Desinformation und infrastrukturelle Hypermachtansprüche geprägt. Zugleich lassen sie strategische Prozesse, Praktiken und Ambivalenzen zu, die wir im Hinblick auf Partizipation, Teilhabe und Transparenz mit (liberalen) Demokratie(n) assoziieren. Sie können (soft-)autoritäre und autokratische Regierungsstile begünstigen oder deren Auswirkungen auf politische Situationen kaschieren. Überdies beeinflussen sie Macht über Daten und Datenpolitiken. So durchdringen sie die Politiken mit und durch Daten. Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, Datenpolitiken in solchen autoritären Geflechten zu erkunden.
Die Assemblagen gründen auf „Politiken und Governance-Ansätzen [und entstehen] im Kontext von Technologieentwicklungen, im Aufeinandertreffen ganz unterschiedlicher Handlungslogiken und Weltsichten, oft auch konflikthaft, in Aushandlungsprozessen“ (Koch, 2018, S. 184). Sie umfassen nichtmenschliche Akteure wie Algorithmen, Geräte und Codes, die an der „Infrastrukturierung“ beteiligt sind (Amelang & Bauer, 2019). In meiner Forschung folge ich ihren (konstitutiven) Effekten für die (fragmentierten) Datenlandschaften, die sich in der Corona-Situation entfalteten und keineswegs für alle und jede*n gleichermaßen offen, zugänglich und greifbar waren. Daten und ihre Politiken treten daher als grundlegende, aber letztlich gewöhnliche Elemente größerer Verflechtungen in Erscheinung (Kitchin, 2020; Kitchin & Lauriault, 2014). Dabei greifen oft die technische und die staatliche Seite ineinander. Die Datenpolitiken sind in ihrer Verzahnung zwischen dem Digitalen und dem Analogen, dem Online und dem Offline, dem Politischen und dem Technischen, aber auch zwischen dem Gewöhnlichen und dem Außergewöhnlichen greifbar (für eine methodisch-analytische Diskussion siehe zum Beispiel Boellstorff & Maurer (2015); Knox & Nafus (2018)) . In ihrer Erforschung sind „mehr-als-digitalanthropologische“ Perspektiven entscheidend, „um einer wie auch immer gearteten techno-deterministischen Sichtweise“ (Klausner, 2022, S. 15) und überfrachteten Narrativen zu dystopischen und utopischen Effekten der Digitalisierung zu entkommen. Daten fungieren manchmal als ein „mächtiger Marker“ des Progressiven, manchmal aber auch nur als ein „leerer Signifikant“ (Geismar & Knox, 2021, S. 15), in dem sich hyperbolische Machtansprüche und utopische Hoffnungen manifestieren und vermitteln lassen. Ein Fokus auf die digital und analog verflochtenen Praktiken und Beziehungen ermöglicht „ein wichtiges Korrektiv“ (Klausner, 2022, S. 15) zu den Vorstellungen von Daten und zu den Analysen von Datenpolitiken. Dies ist gerade in ohnehin fragilen Demokratien und autoritären Geflechten von besonderer Bedeutung, um die Anordnungen des Datenpolitischen auf die Spur zu kommen.
Zahlen und Daten – sowohl generierte als auch geschätzte – sind politisch. Ihre Existenz und ihr Fehlen prägen die biopolitische Macht in Krisenzeiten und beeinflussen die erlebten ebenso wie die gelebten Wirklichkeiten, Wahrheiten und Widersprüche. Dies zu erkennen und strategisch zu nutzen, um in Krisen und Chaos für sich vorteilhafte Arrangements zu schaffen, ist vielleicht eines der typischen Merkmale zeitgenössischer Autoritärer. Die autoritären Regierungen erkennen, dass eine absolute Kontrolle über Informationen und Daten weder möglich noch notwendig ist. Sie beanspruchen eine hyperbolische Macht über Daten und inszenieren Datenlandschaften, in denen sie diese performen. Dafür greifen sie pragmatisch auf digitale Datentechnologien zurück. Sie wissen ihre Herrschaftstechnologien innerhalb der soziotechnischen Arrangements flexibel und willkürlich zu navigieren. Wenn es darum geht, sie und ihre Datenpolitiken in digitalen, datengesättigten Zeiten zu erforschen, stoßen wir an Grenzen – konzeptuell und methodisch. Charakteristisch für sie ist, dass sie die Grenzen zwischen demokratischen und antidemokratischen Regierungsformen und Biopolitik soft-autoritär (Randeria, 2021) ausdehnen und sie in autokratische Regierungsmacht umwandeln (Scheppele, 2018).3 Im Spannungsfeld digitaler Biopolitik und (Un-)Regierbarkeit in Krisenzeiten und gesellschaftlichen Ausnahmezuständen kommt dieses Charakteristikum besonders deutlich zum Vorschein.
Hier sind die oben dargestellten relationalen Ansätze hilfreich. Sie ermöglichen zweierlei: Datenpolitiken über eine Staats-, Macht- und Technologiezentrierung hinausgehend zu erkunden und ihre national-lokalen Formationen und Verstrickungen im Kontext von Autoritarismus nicht als von der Demokratie abgegrenzte Phänomene zu verstehen (Glasius & Michaelsen, 2018; Hou, 2022). Bisherige Forschungen konzentrieren sich auf einen „Staat-Markt-Komplex“ (Hou, 2022, S. 5). Dabei werden „die Überlegenheit und Stabilität autoritärer Macht nicht als selbstverständlich, sondern als eine prekäre Errungenschaft betrachtet“ (ebd., S. 5). Ähnlich wie in nichtautoritären Kontexten wirkt sich dieser Komplex höchst unterschiedlich auf die datengesättigten Alltage sowie auf Macht- und Handlungsfelder aus, um die sich zeitgenössische autoritäre Regierungen reißen. Dabei spielen digitale Regierbarkeit und bio-datenpolitische Verschiebungen eine entscheidende Rolle. Waisbord & Soledad Segura (2021) beschreiben beispielsweise für die lateinamerikanischen Länder das Fehlen einer (biopolitischen) Regierbarkeit. Dabei gelten verschiedene Faktoren wie Ziele und Wirkweisen bürokratischer Systeme, Regierungslogiken, Rechenschaftspflicht und die (fehlende) Transparenz von Mechanismen als wichtig. Zu diesen Faktoren zählen die Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit digitaler Infrastrukturen. Ebenfalls spielen das Verständnis von und die Ignoranz gegenüber datenbezogenen Rechten wie der individuellen Privatsphäre, der Datensouveränität und des „Recht[s] auf Wissen“ eine maßgebliche Rolle (ebd.). Während der Pandemie konnten wir die Folgen in zahlreichen Ländern beobachten, darunter Ungarn, Indien, Russland, Israel, Brasilien und Mexiko. Die „digital-autoritären und illiberalen Praktiken“ (Glasius & Michaelsen, 2018) entfalteten sich rasant – nicht ausschließlich, aber insbesondere in autoritär-populistisch regierten Ländern. Sie umfassten orchestrierte Desinformation und möglicherweise auch „Sabotageakte“ (ebd.), die in großem Umfang durch Cyber-Truppen und mediale Operationen durchgeführt wurden. Die regierungsnahen Medien und digitalen Plattformen wurden für einen „Infokrieg“ genutzt – hier exemplarisch Brasilien unter Bolsonaro (Cesarino, 2021). Wie u. a. Sastramidjaja & Wijayanto (2022) beschreiben, wurden kritische Informationen und Daten zur Corona-Krise dadurch selektiv zurückgehalten, heruntergespielt oder manipuliert. In einigen Ländern – darunter die Türkei, Ungarn und Indien –, in denen die Exekutive und/oder eine einzelne Führungsperson über weitreichende Befugnisse verfügt, wurde die Veröffentlichung von den Angaben der Regierung widersprechenden oder diese hinterfragenden Informationen und Daten unter Strafe gestellt (Aydın-Düzgit, Kutlay & Keyman, 2021). Im Falle der Türkei ging dies Hand in Hand mit einer Machtzentralisierung, mangelnder inklusiver Regierung und Rechenschaftslegung. Der „public health centralism“ (Oztig, 2022) eröffnete zwar Möglichkeiten für ein besseres Pandemiemanagement, förderte jedoch gleichzeitig eine exklusive autoritäre Pandemiepolitik in Verbindung mit einer „Präsidialbürokratie“, die Bakir zufolge „Loyalität“, „Gehorsamkeit“ und „Engagement“ über professionelle Standards, autonomes Handeln und unabhängige Politikgestaltung stellte (Bakir, 2020, S. 429; zitiert nach Oztig, 2022, S. 265). Diese Faktoren prägten die datenpolitische Situation und ließen Fragen nach den Folgen exklusiver autoritärer Praktiken und Politiken im Zusammenhang mit Daten aufkommen. In meiner Forschung beschäftige ich mich ethnografisch damit und betrachte die Komplexität solcher datenpolitischen Situationen. Hier verwende ich „autoritäre Geflechte“ als heuristisches Werkzeug, um die Datenpolitiken in den vielschichtigen Verflechtungen von Regierungspraktiken, Machttechnologien, Infrastrukturen, Diskursen und politischen Strategien zu beschreiben. Daraus ergaben sich sowohl konzeptionelle als auch methodische Möglichkeiten und Herausforderungen. Im Folgenden werde ich einige von ihnen erörtern.
2.3 Erforschung viraler Datenlandschaften via Ethnografie von zu Hause aus
Ungewöhnliche Situationen verlangen nach experimentellen Ethnografien. Die Covid-19-Krise war eine davon. Ich saß in den vier Wänden meiner Wohnung in Bremen, einer norddeutschen Stadt mit rund 500 000 Einwohner*innen und einem damals als „vorbildlich“ dargestellten Pandemiemanagement, und versuchte, die pandemischen Umbrüche zu verstehen und vor allem den daten-bio-politischen Veränderungen in der Türkei nachzuspüren – eine Ethnografie von Zuhause aus, wie ich es während meiner Forschung in den Jahren 2020 und 2021 ironisch nannte, wobei ich auf die bereits erprobten Methoden der digitalen Ethnografie im Remote-Modus zurückgriff (Gray, 2016). In der Tat stellten sie, ähnlich wie vor der Pandemie, fast die einzige sichere Möglichkeit dar, beobachtend an den Geschehnissen teilzuhaben und digital ko-präsent zu sein. Auf diese Weise lassen sich politische und physische Gefahren und Risiken minimieren, auch wenn autoritäre Repression nicht vermeidbar ist (Glasius et al., 2018). Für mich, wie für viele andere kritische Wissenschaftler*innen und Forschende, die zur Türkei forschen, waren die Forschungsbedingungen bereits in den vorpandemischen Jahren schwierig.4 Ethnografische Forschung – ob online, aus der Ferne oder vor Ort – ist von autoritären Geflechten umgeben, durch die sie navigieren muss. In dieser außergewöhnlichen Zeit zogen sich die Fäden autoritärer Geflechte noch enger zusammen.