"Die Pandemie sind wir"

Rezension von: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie.

  • Nils Zurawski ORCID logo Universität Hamburg

DOI:

https://doi.org/10.15460/kommges.2021.22.1.863

Schlagworte:

Pandemie, Corona, Rezension, Geschichte, COViD-19

Redaktion und Begutachtung

  • Katharina Kinder-Kurlanda ORCID logo Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

1 Rezension

„Die Pandemie, das sind wir.“ Mit dieser Feststellung schließt Malte Thießen seine Gesellschaftsgeschichte der Corona-Pandemie (Thießen, 2021). Noch mittendrin in der Pandemie, auch wenn sie im November 2021 fast überstanden schien, schreibt der Historiker einen ersten Rückblick und ordnet das Erlebte in seine historischen Dimensionen ein. Ist das nicht zu früh, könnte man durchaus fragen. Ja und nein. Ja, denn noch ist nichts vorbei, Wendungen könnten noch kommen, die alles ändern. Für eine historische Kontextualisierung ist nicht genügend Zeit vergangen um die tatsächlichen Auswirkungen, auch nur mittelfristig, reflektiert und mit Wissen gesättigt zu erklären. Und nein – denn gerade sein historischer Blick ist genau jetzt wichtig, mitten im Geschehen selbst einen kühlen und überlegten Kopf zu behalten. Außerdem: Er ist ja gar nicht der erste, der sich forschend und analytisch mit der Corona-Pandemie beschäftigt. Es sei an das Frühjahr 2020 erinnert, als Soziologen:innen und andere Weltdeuter:innen erste Aussagen darüber machten, was im Nachhinein alles anders seien würde, ohne damals auch nur annähernd abschätzen zu können, was noch so alles kommen würde. Die ersten Sammelbände erschienen dann auch bereits im Spätsommer 2020 – manches davon müsste jetzt noch mal ein Update erfahren, da bin ich mir auch ohne vollständige Kenntnis aller dieser Werke sicher (für eine nicht vollständige Liste, siehe am Ende dieses Textes).

Nun, nach fast zwei Jahren ist manches besser einzuschätzen, zumal Thießen sich hier nicht auf unsicheres Terrain begibt, hat er sich doch in seiner Arbeit vor allem mit Seuchen und der Geschichte des Impfens beschäftigt, u.a. in „Die immunisierte Gesellschaft“ (Thießen, 2017) oder bereits 2014 mit der Herausgabe eines Sammelbands zu „Seuchen im langen 20. Jahrhundert“ (vgl. Thießen, 2014) . Dort stellte er bereits fest, dass Seuchen Seismographen des Sozialen seien – eine Formulierung, die mittlerweile zum Allgemeinplatz geronnen ist, allein wenige handeln danach oder nutzen diese so wichtige Erkenntnis im Nachdenken über und dem Handeln in der Pandemie. Die abschließende Feststellung des vorliegenden Buches „Auf Abstand“, dass wir selbst die Pandemie seien, ist die logische Konsequenz daraus.

Was betrachtet er in dem aktuellen Buch und warum lohnt sich auch jetzt schon die durchaus kurze und kurzweilige Lektüre, auch wenn noch ein guter Weg bis zur Beendigung der Pandemie bevorsteht?

Formal hat er sich einer Orientierung an Worten mit dem Buchstaben „A“ bedient – so wie er es im Titel bereits begonnen hat: „Auf Abstand“. Seine Analyse folgt dann ähnlichen Begriffen wie: Anfänge, Ausbrüche, Achtsamkeit, Abschottung oder Abstiege und Auswege. So geht er im Kapitel Anfänge der Frage nach, warum wir nicht gewarnt gewesen wären, im Kapitel Abschottung dem (bis heute anhaltenden Phänomen) der Ländervergleiche und Leistungswettbewerbe sowie der Bedeutung einer globalen Kooperation, die allerdings unter Druck geriet und durch so manche Maßnahmen in Frage gestellt wurde. Im Kapitel Ablehnung schaut er auf die Gesundheit als Weltanschauung und auf die „Querdenker” und den Protest gegen Corona. Bei den Auswegen betrachtet er die Impfgeschichte als Relativitätstheorie, womit er vor allem darauf verweist, dass Impfen immer schon ein relatives Sicherheitsversprechen beinhaltete, nie ein absolutes. Das lag in der Geschichte der Impfungen vor allem daran, dass die Impfstoffe oft eine wechselnde Qualität gehabt hätten und auch das Wissen um den komplexen Vorgang nicht hinreichend bekannt war. Das sei seit den 1970ern vielfach anders gewesen. Bei Corona sei nun auf einmal wieder vieles neu gewesen, das man längst als gelöst betrachtet hatte. Zum einen seien die „Impflinge“ nicht länger hauptsächlich Kinder gewesen, sondern auch Erwachsene und es mussten nun nicht nur ein bis zwei Millionen Kinder eines Jahrgangs geimpft werden, sondern eine komplette Bevölkerung – am besten im globalen Maßstab. Dass mit der Impfung Corona nicht einfach gelöst werden würde, sei ihm und weiteren Kollegen:innen bereits 2020 bewusst gewesen, wie er einen von ihnen zitiert (S. 162). Gerade in der gegenwärtigen Situation am Beginn des Jahres 2022, in der es Impfstoffe gibt, aber über die Verteilung, die Bereitwilligkeit sowie die auf dem Impfen fußenden Strategien zur Überwindung der Pandemie breit und sehr laut – wenn auch nicht immer sehr intelligent –gestritten wird.

Indem er diese und andere Aspekte der Pandemie historisch einordnet, zeigt er vor allem, was heutigen Gesellschaften im Umgang mit solchen sozial-epidemisch-ökologischen-ökonomischen Krisen fehlt oder warum wir die „Opfer unserer eigenen medizinischen Erfolge“ sind, wie er an anderer Stelle relativ zu Beginn der Pandemie ausgeführt hat1. Einer dieser Erfolge ist sicherlich die relativ hohe Gesundheitsquote in unserer Gesellschaft – was man durchaus auf viele der westlich geprägten Länder anwenden kann. Die gute medizinische Versorgung (bei aller berechtigter Kritik) und ein hohes Vertrauen, dass einem geholfen wird, hat wohl, folgt man Thießen, auch dafür gesorgt, dass der Umgang mit Krankheiten auf andere Art als mit dem schnell verfügbaren Medikament, nicht denkbar war. Indem Theißen auf die Pandemie aus verschiedenen Perspektiven schaut, entwirft er ein Bild der Komplexität, die immer wieder konstatiert wird, aber selten in der Öffentlichkeit anzukommen scheint oder dort als solche wahrgenommen wird. Das wird noch einmal deutlich, wenn er im fünften Kapitel, das mit „Aushandlungen des Ausnahmezustandes“ überschrieben ist, die schwierigen Debatten um Solidarität, Sicherheit und Freiheit nachzeichnet und einordnet.

Man kann diese Aushandlungen durchaus auch als Zentrum der Corona-Krise betrachten, denn hier wird all das anschaulich und nachvollziehbar, was es heißt, wenn er von „der Krise als Seismograph des Sozialen“ (Thießen 2014) spricht. Politik auf der einen, Wissenschaft auf einer anderen Seite; die Forderungen der Bevölkerung (sofern man dabei von „der“ Bevölkerung“ sprechen kann); die Analyse der Journalisten:innen, die vorgeben den einordnenden Blick zu haben und dann doch sich auch in der Komplexität zu verlieren drohen. Dass in einer solchen Situation dann auch noch von den genuin Sachverständigen des Virus, also den Virolog:innen, Epidemiolog:innen und anderen Wissenschaftler:innen, nur ungenaue, sich mit der Zeit und Erkenntnis ändernde Meinungen und Einschätzungen ergaben, die eine breite Öffentlichkeit immer wieder in ihrem Bedürfnis nach Klarheit und langfristigen Handlungsstrategien herausgefordert hat und es nach wie vor tun, ist wohl die eigentliche Schwierigkeit im Umgang mit den von der Pandemie gestellten Herausforderungen. Thießen weist darauf hin und zeigt, bei aller Überzeugung für die Evidenz der wissenschaftlichen Expertinnen Verständnis für die damit verbundenem Probleme, wenn er sagt, dass "das breite politische Spektrum, die Durchsetzung konsequenter Schutzmaßnahmen zum Verzweifeln schwierig macht“ (S. 110).

Das ist, so würde ich folgern, keine Kritik an dem grundsätzlichen System demokratischer Entscheidungsfindung und daraus resultierender Handlungsstrategien – wohl aber ein Hinweis darauf, dass Komplexität und Ambivalenz die elementaren Begleiterscheinungen einer solchen Krise sind, für die es keine leichten Lösungen oder gar einen standardisierten Umgang gibt. Ob diese Verwerfungen im Sozialen, wie sie sich gerade vor allem medial vermittelt und in den schnell wechselnden Schwerpunkten der öffentlichen Debatten widerspiegeln, zu einer Zeitenwende führen werden, die die Welt nachhaltig verändern werden, sieht Thießen mit dem weiten Blick des Historikers wesentlich nüchterner. Sein letztes Kapitel, welches wenig überraschend mit „Ausblick“ übertitelt ist, sieht er solche Zuschreibungen sich häufig im Strom der Geschichte auflösen. In seinem Fazit sieht er eher Anzeichen dafür, dass die Welt „nach Corona“ einem erschreckend vertraut vorkommen würde (S. 183).

An diesem Fazit kann man sich durchaus orientieren, wenn es um die Lehren gehen sollte, die man aus der Pandemie und ihren sozialen und politischen Begleiterscheinungen ziehen könnte. Erschreckend vertraut könnte einem dann auf globaler Ebene erscheinen, dass sich die bestehenden Ungleichheiten nicht verringert haben, sondern im Gegenteil die ohnehin reicheren Staaten weiterhin weitgehend unsolidarisch zeigen, wenn es um die Verteilung von Impfstoffen geht – die existierende Debatte zur Aufhebung des Patentschutzes, um möglichst viel und preiswerten Impfstoff herzustellen, ist dabei eine der wichtigsten, die allerdings wenig Beachtung findet.

Thießen selbst möchte mit seinem Buch dafür plädieren, dass die Gesellschaft es sich mit den Lehren nicht zu einfach macht. Als ein Plädoyer für einen totalen Präventionsstaat möchte er seine Analyse eben gerade nicht verstanden wissen (S. 189). Vollkommen nüchtern sieht er den Umstand (auf den auch viele Virolog;innen und Ökolog:innen bereits hinweisen), dass Gesellschaften auch in Zukunft mit den Corona-Viren und ihren Kindern (Thießen, S. 189) umgehen werden müssen. Leider (oder eigentlich zum Glück müsste man anmerken) hält er für eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie keine einfachen Lehren bereit (S. 190), außer der, dass „wir“ die Pandemie seien.

Gerade diese letzte Erkenntnis kann und muss man auch mit Blick auf andere globale und im Detail schwer fassbare Entwicklungen und Phänomene als Erkenntnis mitnehmen. So könnte man in Abwandlung auch davon sprechen: Der Klimawandel – das sind wir. Damit würde die Bedeutung eigener Verantwortung und möglicherweise auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit eigenen Handelns in den Mittelpunkt von gesellschaftlichen Debatten und politischer Handlung gestellt. Diese Lehre ist dann aber leider so trostlos wie wichtig: Auch der Klimawandel braucht entschiedenes Handeln. Vorschläge und Konzepte sind längst auf dem Tisch – ob man sich dabei immer mit dem Verweis auf die Komplexität der Welt vom Handeln zurückziehen kann, muss zumindest gefragt, wenn nicht gar bezweifelt werden.

Thießens Buch ist keine theoretische Abhandlung oder gar eine Theorie der Pandemien, sondern das was im Untertitel behauptet wird: Eine Gesellschaftsgeschichte der Corona-Pandemie. Ob eine solche mitten in der Pandemie letztendliche Antworten geben kann, ist unwahrscheinlich. Allerdings blickt Thießen mit seinem historisch einordnendem Blick weit zurück und ebenso klug in die Gegenwart, so dass er gut verständlich ein Buch geschrieben hat, welches auch jenseits rein wissenschaftlicher Zirkel verstanden werden und dort wichtige Impulse für Debatten liefern kann. Er zeigt vor allem, dass ein Absolutismus von (auch wissenschaftlicher) Erkenntnissen nicht immer zielführend ist, dass man es sich mit den Lehren nicht zu leicht machen sollte und vor allem dass wir, die Menschen, die Gesellschaft es selbst sind, die den Verlauf mitbestimmen können, wenn wir die Krise nicht beständig veräußern würden – auf das Virus, auf die Regierung, auf die Wissenschaftler:innen. Diese Erkenntnis ist auch mitten in der Pandemie wichtig und dafür lohnt sich ein Blick in die Geschichte durchaus.

2 Weitere Ressourcen zur Corona-Pandemie (absolut nicht vollständig), mit einem Focus auf Soziologie und gesellschaftlichen Gegenwartseinschätzungen.

Current Sociology: Sociology of Pandemics, Volume 69 Issue 4, July 2021, https://journals.sagepub.com/toc/csia/69/4

Frei, N. and Nachtwey, O. (2021) “Quellen des ‘Querdenkertums’. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg”. University of Basel (Basler Arbeitspapiere zur Soziologie, 5).10.31235/osf.io/8f4pb.

Kortmann, B., & Schulze, G. G. (Hrsg.). (2020). Jenseits von Corona: Unsere Welt nach der Pandemie - Perspektiven aus der Wissenschaft (Sonderausgabe für die Landeszentralen für politische Bildung). Zentralen für politische Bildung.

Leibniz-Gesellschaft und Corona-Forschung: Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft, https://www.leibniz-gemeinschaft.de/forschung/corona-forschung/corona-forschung-auswirkungen-auf-gesellschaft-und-wirtschaft

Lessenich, S. (2020). Soziologie – Corona – Kritik. Berliner Journal für Soziologie, 30(2), 215–230. https://doi.org/10.1007/s11609-020-00417-3

Nachtwey, O., Schäfer, R., & Frei, N. (2020). Politische Soziologie der Corona-Proteste [Preprint]. SocArXiv. https://doi.org/10.31235/osf.io/zyp3f

Nagel, A.-K. (2021). Corona und andere Weltuntergänge: Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft. transcript.

Nullmeier, F. (2021). Covid-19-Pandemie und soziale Freiheit. Zeitschrift für Politische Theorie, 11(1), 27–28.

Rosa, H. (2020). Pfadabhängigkeit, Bifurkationspunkte und die Rolle der Soziologie. Ein soziologischer Deutungsversuch der Corona-Krise. Berliner Journal für Soziologie, 30(2), 191–213. https://doi.org/10.1007/s11609-020-00418-2

Spieß, C. (2021). »Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler« – Politische Kommunikation im Zeichen der Corona-Pandemie. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 51(3), 451–475. https://doi.org/10.1007/s41244-021-00207-1

Stegbauer, C., & Clemens, I. (Hrsg.). (2020). Corona-Netzwerke – Gesellschaft im Zeichen des Virus. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31394-4

Volkmer, M., & Werner, K. (Hrsg.). (2020). Die Corona-Gesellschaft: Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. Transcript.

Podcast: Soziologische Perspektiven auf die Corona-Krise, https://coronasoziologie.blog.wzb.eu/programm/

Social Science Research Council. Covid-19 and the Social Sciences: https://covid19research.ssrc.org

Referenzen

Thießen, M. (2014). Infiziertes Europa: Seuchen im langen 20. Jahrhundert (Historische Zeitschrift : Beihefte ; N.F., 64; Erscheint auch als: Online-Ausgabe: Thießen, Malte: Infiziertes Europa, ISBN 978-3-11-036452-1). München: de Gruyter Oldenbourg. Verfügbar unter: http://digitale-objekte.hbz-nrw.de/storage2/2014/09/29/file_8/5807548.pdf

Thießen, M. (2017). Immunisierte Gesellschaft: Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. - Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1972- ; ZDB-ID: 184291-2). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Thießen, M. (2021). Auf Abstand: eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie. Frankfurt New York: Campus Verlag.


  1. "Wir sind Opfer unserer medizinischen Erfolge“. Interview mit Malte Thießen über Seuchen und Impfen in der Moderne, Verfügbar bei der Gerda Henkel-Stiftung: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/seuchen_und_impfen_thiessen↩︎

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