„Book of Anonymity“ von Anon Collective

Eine Rezension von Katharina Kinder-Kurlanda

  • Katharina Kinder-Kurlanda ORCID logo Universität Klagenfurt

DOI:

https://doi.org/10.15460/kommges.2021.22.1.848

Schlagworte:

Anonymität, Digitalisierung, Autorschaft, Überwachung, Rezension

Redaktion und Begutachtung

  • Nils Zurawski ORCID logo Universität Hamburg

Abstract

Dies ist eine Rezension über das Buch "Book of Anonymity“ herausgegeben vom Anon Collective, erschienen bei punctum books, 2021, 484 Seiten, ISBN: 9781953035301.

1 Rezension

Das “Book of Anonymity” des Anon Collective (Anon Collective, 2021) ist wissenschaftlicher Beitrag und Kunstwerk zugleich. Es wirkt auf verschiedenen Ebenen und das ist kein Zufall: Viel Sorgfalt wurde nicht nur der Auswahl und Zusammenstellung der Beiträge gewidmet, sondern auch den – bei vielen Büchern oft nebenher gefällten – Entscheidungen zu Format, Darstellung und Art der Darbietung. Daher ist das Buch auch bei punctum books erschienen, einem unabhängigen Non-Profit-Verlag, der auf der ersten Seite um Unterstützung wirbt, und so die Leserin oder den Leser gleich mit der ersten Entscheidung zum Thema „Einmischen oder nicht“ bzw. „Unerkannt bleiben oder nicht“ konfrontiert. Konsequent wird im ganzen Buch der Anspruch aufrechterhalten, Inhalt und Form nicht zu trennen.

Der Sammelband enthält mehr als vierzig Beiträge von Akademiker:innen und Künstler:innen verschiedenster Disziplinen und Verortungen. In der Tradition eines autorlosen Textes ist er vom Anon Collective herausgegeben. Mit dieser Vorgehensweise eröffnet sich eine Zugangsmöglichkeit zum Thema Anonymität auf der Ebene der Selbstreflexion, die sich als sehr erfolgreich erweist. Das herausgebende Kollektiv kann mithilfe der auf den letzten Seiten des Buches befindlichen Zitationshinweise de-anonymisiert werden – es bleibt aber den Lesenden überlassen, ob und zu welchem Zeitpunkt sie eine Re-Identifizierung vornehmen. Die Möglichkeit bleibt bestehen, die Texte, Bilder und Kunstwerke ohne ein Wissen um ihre Urheberschaft zu lesen. Den mit einem Wissen um die Autorschaft einhergehenden Einordnungen und Vorurteilen positiver oder negativer Art kann man sich entziehen. Beim Lesen wird jedoch sehr deutlich, wie schwierig diese nicht vorgenommene Einordnung einzuhalten ist, und wie selbstverständlich üblicherweise eine Beurteilung eines Textes aufgrund seiner ‚Metadaten’ vorgenommen wird. Beim unwillkürlichen Überlegen, aus welchem disziplinären Hintergrund heraus ein Beitrag wohl entstanden sein könnte, ob etwa Forschende dahinter stehen, die man kennt, wird die Reflexion der eigenen Lesegewohnheiten bei der Lektüre immer wieder angerufen. Es kommt zu einem graduellen Prozess der De-Anonymisierung, der erst dann abgeschlossen ist, wenn beim Sprechen oder Schreiben über das Buch mithilfe des vorgeschlagenen Zitationsvorgehens die Einordnung in die Best Practices einer Open Science erfolgt ist. Insgesamt ist es sehr spannend, mit dem eigenen Bedürfnis nach Autorschaft und Einordnung konfrontiert zu werden, und der Aufforderung zu begegnen, den Text als Text bestehen zu lassen. Angeregt wird zu Reflexionen darüber, wie man Texte anders beurteilt, wenn man sie anonym wahrnimmt, und wie gewohnt die Praxis ist, als erstes die Autor:innen und deren fachliche und institutionelle Einordnung zu überprüfen. Damit verdient das Buch auch Beachtung in derzeitigen Diskussionen in verschiedenen akademischen Communities über die Vor- und Nachteile anonymer oder einseitig anonymer Begutachtungsverfahren und über Phänomene wie den Matthäus-Effekt (Merton, 1968).

Zu Beginn des Buches werden verschiedene Wegweiser durch den Band angeboten. Anonymität wird als schwieriges und komplexes Thema aufgespannt, gekennzeichnet durch eine Vielfalt von teilweisen, vorübergehenden oder eingeschränkten Formen der Anonymität im Wandel. Diese erfordern genau die im Band angebotene umfassende, multi-perspektivische Betrachtung.

Zu Beginn werden sieben verschiedene Verständnisse von Anonymität eingeführt, entlang derer die Beiträge im Buch eingeordnet werden können: Erstens, Anonymität als ein Katalog von Anonymisierungstechniken, zweitens, die verschiedenen Zustände des Anonym-Seins und die mit ihnen einhergehenden Bedeutungen, und, drittens, die wünschenswerten oder nicht wünschenswerten Auswirkungen von Anonymität. Viertens, Anonymität als ein Zusammenspiel von Methodensystemen und Prinzipien, die jedoch immer lediglich eine vorübergehende Kohärenz und Konsistenz aufweisen (Anonymität ist danach nicht einfach nur eine stabile Form, sondern wechselbar, relational und umkämpft). Fünftens, Anonymität als etwas, das auch einfach passieren kann, also zum Beispiel die Erfahrung, in einer fremden Stadt herumzulaufen, ein Zustand, der für Bürger:innen einer vernetzten Welt immer schwieriger zu erreichen scheint: Anonymität scheint angesichts immer vernetzterer, digitalisierter Technologien der Überwachung und Identifikation zunehmend gefährdet. Sechstens, Anonymität als eine Abwesenheit von Identifikation, die nur im Vergleich verstanden werden kann, da sie eben als Abwesenheit von etwas funktioniert, das fehlt. Diese Fassung von Anonymität adressiert also ein aktives Schweigen oder Abwesend-Sein von Anonymität. Siebtens, Anonymität als etwas, das von mindestens zwei Positionen aus betrachtet werden muss: derjenigen, die anonymisiert und derjenigen, die anonymisiert wird, und damit analytisch über die triadische Formation des oder der Anonymen, Identifikatoren und des oder der Anonymisierenden gefasst werden kann.

Mit Einschränkung verwirren und überfordern die zahlreichen Einleitungen und Einordnungen bei der Lektüre eher als dass sie zur Kohärenz des Buches beitragen. Letztere wird meiner Ansicht nach ohnehin eher implizit über die das Buch durchziehende Infragestellung von Anonymität als Konzept, das Spiel mit Ambiguitäten und ihrer Aushandlung auf der Ebene von Formaten hergestellt.

Die Beiträge aus Kunstwerken, akademischen Essays und experimentellen Texten sind nämlich dann wiederum in fünf Abschnitte unterteilt: Introductions, Reconfigurations, Assault, Weapons und Delights. Damit wird der Bogen von einer Analyse der derzeit stattfindenden Rekonfiguration von Begriffen und Konzepten, über die Rekonfiguration von Öffentlichkeiten und Gesellschaften hin zu einer proaktiven Perspektive, in der Anonymität strategisch eingesetzt werden kann und aktivistische Perspektiven aufgezeigt werden, gespannt, um schließlich in einer optimistischen Perspektive auf die möglichen befreienden Erfahrungen, die anonymes Handeln bereithält, und die Möglichkeiten der Kollaboration unter einer Auflösung der Anonymität reflektiert.

Da es nicht möglich ist, in dieser Rezension allen Texten gerecht zu werden, habe ich auf einige Beispiele fokussiert. Aus medien- und kommunikationsanalytischer Sicht besonders interessant sind die Texte, die Anonymität als Phänomen in der Digitalisierung problematisieren. Hier sind hochaktuelle und wichtige Beiträge von Autor:innen zu finden, die nicht nur durch ihr Renommée (für die deanonymisierenden Leser:innen) sondern auch durch ihre fachliche Expertise und die vielfältigen Perspektiven beeindrucken. Im Kapitel Big Data’s end run around anonymity and consent wird zum Beispiel die widersprüchliche Rolle von Anonymität und informierter Einwilligung in der Forschung mit Big Data beleuchtet. Die Autor:innen argumentieren, dass Anonymität nicht mehr unbedingt die ethischen Probleme, die sich im Zusammenhang mit Privacy im Zeitalter von Big Data ergeben, lösen kann. Anonymität ist ein Konzept, ebenso wie Privacy, welches das praktische Angehen von ethischen Problemen die durch Big Data entstehen ermöglicht, ohne notwendigerweise tatsächlich die wichtigen Fragen zu beantworten, bzw. die Beschäftigung damit kann sogar verdecken, dass ganz andere Probleme entstehen. Aus wenigen Informationen können dank verschiedener Big-Data-Methoden auch in Abwesenheit von Identifizierbarkeit Schlüsse über das Individuum gezogen werden. So reichen etwa wenige Informationen über das Interaktionsverhalten im Internet aus, um personalisierte Services und Werbung anbieten zu können. Die tatsächliche Identität ist dann gar nicht mehr wichtig, und trotzdem kommen problematische Praktiken des Steuerns und Kontrollierens (oder zumindest der Versuche davon, Anm. der Autorin) zur Anwendung. Der Beitrag Anonymity: The Politicisation of a Concept zeichnet die sich verändernden Bedingungen der Anonymität als ambivalentes, aber entscheidendes Merkmal demokratischer Öffentlichkeit nach. Die Vielfalt der Diskurse in technischen, wirtschaftlichen, soziopolitischen und rechtlichen Bereichen zeigt, wie schnell sich die Debatte über Anonymität im letzten Jahrzehnt entwickelt hat. Die Argumente auf beiden Seiten – für und gegen Anonymität – seien dabei ausgefeilter geworden. Ihr Schwerpunkt sollte allerdings weniger auf Techniken der Anonymisierung als vielmehr auf einem rechtlichen und institutionellen Rahmen liegen, der robust genug ist, um kapitalistische Dynamiken und staatliche Übergriffe in Schach zu halten. Der Beitrag Anonymity as Everyday Phenomenon and as a Topic of Research kontrastiert alltägliche Erfahrungen mit Anonymität mit deren (zum Teil eher impliziter) Behandlung in der Sozialtheorie, zum Beispiel bei Georg Simmel, Zygmunt Baumann und der Frankfurter Schule. In der Sozialtheorie wird Anonymität zum einen konzeptionell als Nicht-Identifizierbarkeit eines Individuums diskutiert, ein Thema, das unter dem Eindruck neuer Formen der Überwachung relevant wird. Zum anderen wird das entindividualisierte Handeln gegenüber einem typisierten Mitmenschen thematisiert; eine tatsächliche theoretische Definition des Begriffs Anonymität ist jedoch im Rahmen einer Sozialtheorie der Moderne bisher nicht vorgenommen worden.

Den rein konzeptionellen Beiträgen sind unterschiedliche Texte beigefügt, die sowohl die Bedeutung von Anonymität als analytischer Linse herausstreichen, als auch vorführen, wie unterschiedlich Anonymität sich innerhalb bestimmter Konstellationen oder Machtgefüge auswirken kann: Der Text Fraught Platform Govermentality stellt der häufigen Stigmatisierung von anonymer Online-Kommunikation (v.a. als gewaltfördernd) mit der Untersuchung des Aufstiegs und Untergangs der Plattform Yik Yak eine Analyse des komplexen Zusammenspieles aus Community-Selbstorganisation (am öffentlichen Interface) und Regulierungsversuchen durch die Plattformbetreibenden (am nicht-öffentlichen Interface der Plattform) gegenüber. Das Kapitel Policing Normality: Police Work, Anonymity, and a Sociology of the Mundane zeigt die Zusammenhänge zwischen Anonymität und dem, was als ‚normal’ definiert wird. Der Beitrag zeigt, wie in der Polizeiarbeit auf verschiedene Weisen Normalität hergestellt wird; zum einen, wenn – im Kontrast – verdächtiges Verhalten identifiziert wird und zum anderen, wenn nicht-uniformierte Polizist:innen durch entsprechen ‚normales’ Verhalten bei der Beobachtung anonym bleiben wollen. Diese relationale Konfiguration wird später im Band im Kapitel Proximity, Distance, and State Powers noch weiter ausgeführt, wenn die verschiedene Weisen aufgedeckt werden, mit denen Polizist:innen durch performatives Sichtbar- und Unsichtbar-Sein Macht ausüben. In Anonymity on Demand - The great Offshore wird mit einer Feldforschung der Offshore-Banking-Industrie, also der Branche, die die undurchsichtigen Finanzströme der Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Steueroptimierung verwaltet, Anonymität als Service für privilegierte Akteure präsentiert. Hier geht es um das Verschleiern von Besitzverhältnissen und Einflüssen mittels Anonymität und Geheimhaltung für einige Wenige – mit Strategien, die im Artikel in einem Glossar aufgedeckt werden. Außerhalb der Kontrolle von Nationalstaaten genießt eine privilegierte soziale Klasse Anonymity on Demand durch spezialisierte Dienstleitungen wie Yachting, Privat-Jets, Freihäfen zum Lagern von Kunstgegenständen, spezialisierte Steueranwälte und Vermögensverwalter. Im Kontrast dazu bietet das Kapitel Anonymity and Transgression: Caste, Social Reform, and Blood Donation in India eine völlig andere Perspektive auf Anonymität an, in dem es zeigt, wie das System anonymer Blutspenden andernfalls nicht mögliche Interaktionen zwischen verschiedenen Kasten in Indien ermöglicht und somit eher demokratisierende Potentiale entfaltet. In DNA Works! Merging Genetics and the Digital Realm geht es um Plattformen wie Ancestry.com, die via DNA-Tests Möglichkeiten zur genealogischen Forschung für Privatpersonen eröffnen. Dies ermöglicht es etwa Personen, die durch anonyme Samenspenden gezeugt wurden, genetische Halbgeschwister und andere Verwandte zu finden. Am Beispiel von zwei Frauen, die sich solchen Gentests unterzogen haben, wird argumentiert, dass diese Technologie nicht zu einem "Ende der Anonymität“ führt – die in Bezug auf medizinische oder rechtliche Institutionen ohnehin nie vollständig war. Vielmehr betreten an der Schnittstelle verschiedener Technologien, Regulierungen und sozialer Praktiken neue Akteure die Arena und schaffen durch neue Kooperationen neue Formen der Anonymität. Informationen aus verschiedenen Quellen können nun miteinander verknüpft und erst dadurch relevant werden. Die Möglichkeiten zur Abgrenzung zwischen Informationen, die eine Person identifizieren können, und Informationen, die vermeintlich die Anonymität wahren können, werden immer fragwürdiger.

Im Kapitel Sanitary Policy and the Policy of Anonymity: Observations on a Game on Endocrine Disruptors werden – ähnlich wie in den verschiedenen künstlerischen Beiträgen im Buch, die in diese Rezension weniger Eingang gefunden haben – neue Formate gesucht, um sich Ambiguitäten und Unklarheiten zu nähern. Anonymität bezieht sich in diesem Beitrag auf eine Kategorie von Stoffen, die nach und nach und oft kontrovers als endokrine Disruptoren identifiziert wurden. Dies sind natürliche oder synthetische Substanzen, die das Hormonsystem lebender Organismen beeinträchtigen. Wissenschaftliche Studien haben die Auswirkungen, die diese Stoffe auf Organismen haben können und die zu Krankheiten, Deformationen, Veränderungen oder zum Tod führen können, bestätigt, geleugnet oder heruntergespielt. Die Substanzen zirkulieren frei und anonym, ohne verboten oder identifiziert zu werden. Diese Situation wird durch ein Spiel verdeutlicht, in dem Deanonymisierung and Anonymisierung taktisch eingesetzt werden können (mit Spielbrett, Anleitung und Spielkarten), um Verantwortlichkeiten zuweisen zu können. Transformella Malor Ikeae: InnerCity Ikeality [4.4.6.11] ist ebenfalls einer der Beiträge, die traditionelle Formate völlig hinter sich lassen und operiert mit einer Kollektion aus Feldnotizen, Selbstreflektionsbeiträgen und Fußnoten. Er ist, wie viele Beiträge im Buch, Kunstwerk und Text zugleich und verbindet verschiedene Ebenen, die zum Reflektieren und Verstehen von Anonymität einladen. Diese verschiedenen Ebenen verdeutlichen, wie sich Anonymität immer wieder entzieht, wie sie erlebt, immer wieder neu gedacht und konzipiert werden kann und sich nicht anbietet um definiert zu werden, sondern eher Brüche und Widersprüchlichkeiten sichtbar macht.

Die innovativen Textformate lassen Anonymität als Begriff schillern: Anonymität kann befreien, (die Falschen) bevorteilen, (die Richtigen) benachteiligen, schützen, gefährden oder selbst gefährdet sein. Viele der Beiträge zeigen in sich oder in der Gegenüberstellung mit anderen Beiträgen die Widersprüchlichkeit der Konzeptionierungen von Anonymität auf; erst die Beiträge, die das traditionelle Format verlassen und mit Text und Bildern spielen, eröffnen jedoch die Möglichkeit, jenseits von Entweder-Oder-Verortungen, Anonymität zum einen als Linse und zum anderen in ihrer Eigenschaft des Sich-immer-wieder Entziehens zu fassen.

Datenverfügbarkeit

Alle relevanten Daten befinden sich innerhalb der Veröffentlichung.

Interessenskonfliktstatement

Die Autor*innen erklären, dass ihre Forschung ohne kommerzielle oder finanzielle Beziehungen durchgeführt wurde, die als potentielle Interessenskonflikte ausgelegt werden können.

Literatur

Anon Collective. (2021). Book of Anonymity. punctum books. https://doi.org/10.21983/P3.0315.1.00

Merton, R. K. (1968). The matthew effect in science: The reward and communication systems of science are considered. Science, 159(3810), 56–63. https://doi.org/10.1126/science.159.3810.56

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2021-10-27

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2021-11-16

Veröffentlicht

2021-11-29