Die Verbreitung von Internet-Memes

Empirische Befunde zur Diffusion von Bild-Sprache-Texten in den sozialen Medien

  • Michael Johann Universität Passau
  • Lars Bülow Universität Salzburg

DOI:

https://doi.org/10.15460/kommges.2018.19.2.599

Schlagworte:

Internet, Soziale Medien, Netzwerk, Bild, Text, Diffusion, Twitter

Redaktion und Begutachtung

  • Georg Fischer Technische Universität Berlin
  • Lorenz Grünewald-Schukalla HIIG Berlin

Abstract

Im Kontext des G7-Gipfels im Juni 2015 entstand ein Foto von Angela Merkel und Barack Obama, das Twitter eroberte. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Netzwerkstrukturen, unter denen die Verbreitung des sogenannten Merkel-Memes auf Twitter stattfand. Twitter mit seiner vernetzten Nutzerschaft soll dabei als soziales System verstanden werden, in dem durch meme­tische Funktionen (u. a. Retweets, Hashtags) Diffusionsprozesse begünstigt werden. Im Rück­griff auf die Annahmen der Diffusionsforschung wurde eine quantitative Inhaltsanalyse der Tweets zum Merkel-Meme (n = 3253) durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Diffusion des Memes maßgeblich von der Beteiligung früher Über­nehmer­gruppen (Rogers 2003) abhängt. Diese zeichnen sich vor allem durch ihre dichte Vernetzung innerhalb des sozi­alen Systems Twitter aus.

1 Einleitung

Auch wenn die akademische Internet-Meme-Forschung in den letzten fünf Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen hat, ist sie nach wie vor relativ überschaubar (Miltner 2011). Auch in der Kommunikations- und Sprachwissenschaft hat man diesem Phänomen bisher zu wenig Beach­tung geschenkt. Dabei sind Internet-Memes für viele Menschen längst ein fester Be­stand­teil alltäglicher Kommunikationsroutinen. Darüber hinaus haben sie ein hohes Relevanz­potential in Bezug auf ihren strategischen Einsatz – z. B. im viralen Marketing oder in der politischen Kommunikation (Stichwort Fake News). Gerade die Erforschung ihrer Ver­breitungsfaktoren stellt nach wie vor ein Forschungsdesiderat dar (Spitzberg 2014). Indem wir die Verbreitung des sogenannten Merkel-Memes auf Twitter untersuchen, möchten wir einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen.

Im Fokus der Studie steht ein Foto von Angela Merkel und Barack Obama, das zunächst im Zuge des G7-Gipfels 2015 als offizielles Pressefoto entstand und anschließend mit Hilfe des Hashtags #MerkelMeme von den Nutzer_innen des Microblogging-Dienstes Twitter verbreitet wurde.1 Das Bild wurde nicht nur vielfach geteilt, sondern auch auf vielfältige Weise adaptiert (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: Adaptionen des Merkel-Memes. Quellen (von links oben nach rechts unten): Kappeler (2015); Stadtgespräch (2015); DudeMinds (2015); SixtDE (2015); gruene_jugend (2015); textautomat (2015)

Das Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, den Verbreitungsweg des Merkel-Memes auf Twit­ter zu rekonstruieren, um so die Frage zu beantworten, welche Akteure mit welchen Eigen­schaften bei der Entstehung und erfolgreichen Verbreitung von Internet-Memes beteiligt sind. Die Verbreitungsfaktoren werden insbesondere anhand Rogers’ (2003) diffusionstheoretischen Ansatzes operationalisiert, der sich mit der Verbreitung von Innovationen (hier: die Adaptionen und Replikationen des Merkel-Memes) in einem sozialen System beschäftigt. Demnach sind vier zentrale Bedingungen für die Verbreitung von Innovationen ausschlaggebend: die Eigen­schaften der Innovation, der Kommunikationskanal, die Zeit und das soziale System, innerhalb dessen sich die Innovation verbreitet.

Da sich die vorliegende Studie insbesondere mit der Rolle und den Eigenschaften der Nutzen­den bei der Verbreitung von Internet-Memes beschäftigt, werden vor allem die Diffusions­bedingungen Kommunikationskanal, Zeit und soziales System betrachtet. Twitter mit seinen vernetzten Nutzern wird hier als ein derartiges soziales System verstanden. Die Vernetzung der Nutzer innerhalb des sozialen Systems sowie seine memetischen Funktionen (Hashtags, Retweets, Favorisierungen) begünstigen die Diffusion von Internet-Memes (Moskopp/Heller 2013: 131ff.). In zeitlicher Hinsicht lässt sich die Diffusion des Merkel-Memes zum einen auf der Mikroebene in Form einzelner Übernahmeentscheidungen rekonstruieren, zum anderen fin­det die Verbreitung auf der Makroebene durch verschiedene Übernehmergruppen statt (Rogers 2003: 247–264). Wir untersuchen unter anderem die Zusammensetzung der einzelnen Gruppen im Hinblick auf die Nutzerrollen (Privatpersonen, Journalist_innen etc.) und deren Ver­netzungsgrad. Die Bedingung der Innovation selbst werden wir hier nicht ganz aus­klammern. Es wird zumindest ein erster explorativer Blick auf die Rolle der sprachlichen Kom­plexität geworfen.

Im Folgenden möchten wir in Anlehnung an die Diffusions- und Viralitätsforschung den theo­retischen Rahmen abstecken (Abschnitt 2), bevor wir daraus konkrete Forschungsfragen gene­rieren (Abschnitt 3). Im Anschluss daran werden wir im methodischen Teil dieses Beitrages die Operationalisierung für die quantitative Inhaltsanalyse offenlegen (Abschnitt 4), bevor wir aus­führlich auf die Ergebnisse eingehen (Abschnitt 5), diese diskutieren (Abschnitt 6) und ein kur­zes Fazit ziehen (Abschnitt 7).

2 Theoretische Grundlagen

Das Meme-Konzept wurde ursprünglich von Richard Dawkins (1976) entwickelt und geprägt.2 Er wollte damit ein kulturelles Pendant zur genetischen Evolution fassbar machen. Memes sind in diesem Sinne die Replikatoren kultureller Evolutionsprozesse, die von Dawkins (1976: 206) als Informationseinheiten im Gehirn verortet werden: „Examples of memes are tunes, ideas, catch-phrases, clothes fashions, ways of making pots or of building arches.“ Die Evolution der Memes ist wie die biologische Evolution an die Prozesse Repli­ka­tion, Variation und Fitness gebunden. Gute Replikatoren zeichnen sich durch Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wiederga­betreue aus (Dawkins 1976: 18f.). Dawkins’ neodarwinistisches Meme-Konzept wurde in der Folgezeit von verschiedenen Disziplinen aufgegriffen, zitiert und weiterentwickelt (Blackmore 2000; Croft 2000; Ritt 2011; Shifman 2014; Spitzberg 2014). Blackmore (2000: 86) vertritt beispielsweise eine sehr weite Auffassung des Konzepts: „Was auch immer durch Imitation weitergegeben wird, ist ein Mem“. Die Definition des Oxford English Dictionary (Meme 2017) fällt folgendermaßen aus: „An element of a culture or system of behavior that may be considered to be passed from one individual to another by nongenetic means, especially imitation”. Bei Memes handelt es sich in dieser Perspektive also letztlich um kulturelle Infor­mationen, von denen angenommen wird, dass sie sich – ähnlich wie in der Genetik – durch Weitergabe von Mensch zu Mensch (insbesondere durch Imita­tion) vervielfachen.

Der Begriff Internet-Meme lehnt sich zwar an das Meme-Konzept von Dawkins (1976) an, entspricht diesem allerdings nur bedingt (Pauliks 2017). Der Begriff ist vielmehr zu einem der schillerndsten in den sozialen Medien geworden. Er ist mittlerweile eine Sammelbezeichnung für ganz verschiedene Phänomene, die sich auf Twitter, Facebook und anderen Plattformen verbreiten. Die Konjunktur des Begriffes hat letztlich auch zu seiner Ausfaserung beziehungs­wie­se Bedeutungserweiterung geführt.3 Davison (2012: 126) fasst dies folgendermaßen zu­sam­men: „The term ‘meme’ can mean almost anything.“

2.1 Definitionsversuche

Der abstrakte Charakter des Begriffes Internet-Meme zeigt sich an den Versuchen, das Phäno­men zu definieren. Marx/Weidacher (2014: 143) geben beispielsweise folgende Erläuterung: „Ein Internet-Meme ist die humoristische/sarkastische Reaktion der Internetgemeinde auf ein (mediales) Ereignis“. Die Definition greift zwar den Gedanken auf, dass es in der Regel um humorvolle Inhalte geht, sie enthält aber keinerlei Bezüge zu diffusiven oder evolutionären Verbreitungslogiken. Es wird weder auf den Aspekt der Imitation noch auf den der Variation Bezug genommen. Bauckhage (2011: 48) definiert Internet-Memes hingegen als Inhalte, die sich viral im Internet verbreiten und rapide an Popularität gewinnen. Er berechnet die Diffusion von Internet-Memes mit Hilfe von Differentialgleichungsmodellen aus der mathematischen Epidemiologie. Auch die etwas elaborierteren Definitionen von Burgess (2008: 1) – „an internet ‚meme’ is a faddish joke or practice (like a humorous way of captioning cat pictures) that becomes widely imitated” – und Davison (2012: 122) – „an Inter­net meme is a piece of culture, typically a joke, which gains influence through online trans­mission“ – bleiben relativ abstrakt und oberflächlich.

Den wohl umfassendsten Überblick über die bisherige Internet-Meme-Forschung gibt Shifman (2014). Sie schlägt eine anwendungsorientierte Definition vor, die keinen Bezug auf die inhalt­liche Dimension nimmt:

„I define an Internet meme as: (a) a group of digital items sharing common characteristics of content, form, and/or stance, which (b) were created with awareness of each other, and (c) were circulated, imitated, and/or transformed via the Internet by many users“ (Shifman 2014: 41).

Den Ausdruck „group of digital items“ übersetzen wir hier mit Text, indem wir eine weite Auf­fassung von Text zu Grunde legen, wie sie etwa in der Mediensemiotik (Krah 2013) oder der Diskurslinguistik (van Dijk 2008) vertreten wird. Texte sind demnach alle zeichenhaften Äu­ßerungen, egal welcher medialen Provenienz (Krah 2013: 31). Das umfasst alle Formen von Sprache (egal ob geschrieben oder gesprochen), Bilder, Musik, Videos und andere komplexe semiotische Zeichenverbünde (van Dijk 2008: 116).

Dieser Textbegriff baut im Wesentlichen auf dem Prinzip der Kohärenz auf. Hickethier (2013: 120) spricht von einem „inneren Zusammenhalt, der sich medienwissenschaftlich als Kohärenz beschreiben lässt bzw. durch übergreifende Formen der Gliederung bestimmt wird“. Wir bezie­hen uns im Folgenden darüber hinaus auf einen interaktionalen und prozessorientierten Kohä­renzbegriff, wie er beispielsweise von Fetzer (2012: 448) aufgegriffen wurde. Kohärenz ist demnach keine dem Text inhärente Struktur, sondern ein kognitiver Prozess, in dem Informa­tionen kategorisiert und selektiert werden. Kohärenz wird somit aktiv in der Auseinander­setzung mit dem Text, seinem Kontext oder auch dem sozialen Umfeld konstruiert (Finkbeiner 2015: 104).

Den semiotischen Charakter von Internet-Memes greift Osterroth (2015) in seiner Definition auf, die allerdings auf einen ganz bestimmten Texttyp abzielt, nämlich die Kombination aus Sprache und Bild. Internet-Memes, wie auch das Merkel-Meme, sind demnach „Sprache-Bild-Texte, deren Bedeutungsentfaltung durch kollektive (oft hyperbolisierte) Semiose statt­findet“ (ebd.: 33). Nach Osterroths Auffassung bestehen Internet-Memes aus Bildern der Pop­kultur, der Politik oder dem Alltag, die von den Nutzenden neu- bzw. re-kontextualisiert wer­den. Diese Sprache-Bild-Texte folgen in der Regel einem prototypischen Aufbau: Die Grund­lage bildet das Bild, das die Nutzenden mit zwei sprachlichen Bausteinen versehen. Der erste Baustein befindet sich im oberen Bereich des Bildes. Er ist meist der Beginn eines „bestimmten semantischen Frames“ (ebd.: 31). Der zweite erscheint dann im unteren Bereich des Bildes und beinhaltet meistens die Pointe (ebd.: 28ff.). Bei diesem Memetypus ist das Bild ein Template, das insbesondere durch sprachliche Modifikationen unbegrenzt neu-kontextualisierbar ist.

Auch die vorliegende Untersuchung bezieht sich auf diesen speziellen – wenn auch sehr ver­breiteten – Memetypus, der in der Regel als „image macro“ (Shifman 2014: 112) bezeichnet wird. Dadurch, dass Memes auch ohne schriftsprachliche Kodes funktionieren können, möch­ten wir im Folgenden allerdings von Bild-Sprache-Texten beziehungsweise Bild-Sprache-Internet-Memes (BSIM) sprechen, da der Bildanteil bei der multimodalen Bedeutungskonstruk­tion überwiegt. In Anlehnung an Osterroth unterstreichen wir, dass dieser Memetypus als mul­timodales Artefakt verstanden werden kann, dessen „Memewerdung“ erst „im Kollektiv mög­lich“ (Osterroth 2015: 33) ist.

Allgemein lässt sich festhalten, dass Sprache und Bilder die wohl wichtigsten Zeichensysteme sind, um die soziale und kulturelle Lebenswelt vermittel- und verstehbar zu machen (Klemm/Stöckl 2011: 7). Durch die spezifischen Anforderungsbedingungen des Web 2.0 wie Partizipation und die vielfältigen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung in den sozialen Medien hat die bildliche Kommunikation deutlich an Bedeutung gewonnen (Marx/Weidacher 2014: 177). Internet-Memes können die bildliche und sprachliche Kommunikation dabei auf ideale Weise miteinander verbinden.

2.2 Die Verbreitung von Bild-Sprache-Internet-Memes

Die Verbreitungsbedingungen von BSIM sind bisher kaum erforscht. Es sind allerdings einige Ähnlichkeiten zum Viralitätskonzept evident (Shifman 2014: 55). Es sei an dieser Stelle auf die unübersichtliche Definitionsgrundlage des Viralitätsbegriffes hingewiesen (Porter/Golan 2006: 27; Golan/Zaidner 2008: 961). Im Kontext der Verbreitung von BSIM erweisen sich dennoch zwei Ansätze als zielführend. Mit Fokus auf die Diffusion durch Replikation beschreibt Welker (2002: 4) virale Kommunikation als „strategies that allow an easier, accelerated, and cost reduced transmission of messages by creating environments for a self-replicating, exponentially increasing diffusion, spiritualization, and impact of the message“. Gladwell (2002: 92) betont im Zuge seiner Theorie des „Tipping Point” zudem die inhaltliche Dimension viraler Botschaf­ten:

„In epidemics, the messenger matters: messengers are what make something spread. But the content of the message matters too. And the specific quality that a message needs to be successful is the quality of ‘stickiness’. Is the message […] memorable? Is it so memorable, in fact, that it can create change, that it can spur someone to action?“

Was Gladwell hier mit seiner Idee der „stickiness“ andeutet, lässt sich bei der Verbreitung von Internet-Memes auf Dawkins’ (1976) Eigenschaften guter Replikatoren übertragen: Verbreitet sich die Information über das Internet, oder wie im Fall des Merkel-Memes über den Microblogging-Dienst Twitter, kann die Replikation einer Nachricht positiv beeinflusst wer­den, da ihre verlustfreie Übertragung durch die digitale Weitergabe ermöglicht wird (Wieder­gabetreue). Die Onlinekommunikation begünstigt dabei orts- und zeitunabhängig ihre schnelle exponentielle Verbreitung (Fruchtbarkeit). Hinzu kommt, dass die Botschaft durch die Spei­cherfunktion des Internets erhalten bleibt (Langlebigkeit) (Renker 2008: 24).

Internet-Memes unterscheiden sich allerdings von viralen Inhalten ganz grundlegend in der An­zahl der Versionen, die im Adaptionsprozess entstehen. Während im Zuge viraler Prozesse eine einzelne Version verbreitet wird, beruht die Memetik auf der Erstellung vieler Adaptionen im sozialen System. Da BSIM wie beispielsweise das Merkel-Meme aber häufig auf der Variation des sprachlichen Anteils bei konstantem Bildelement beruhen, sind diese nicht eindeutig in diese Dichotomie einzuordnen. Vielmehr weisen sie Eigenschaften beider Verbreitungsarten auf. Dies verortet Shifman (2014: 59) im Konzept des „founder-based meme“. Demnach kann im Fall des Merkel-Memes das ursprüngliche Bild von Angela Merkel und Barack Obama als das eigentliche prominente und virale Element betrachtet werden, das im Anschluss vor allem auf sprachlicher Ebene ergänzt sowie variiert wird und dadurch zur Entstehung neuer Adaptio­nen führt (ebd.: 63). Aus diesem Grund sollen neben den bereits ausgeführten Erkenntnissen der noch jungen Internet-Meme-Forschung auch Befunde aus der Viralitätsforschung Eingang finden, um den Zusammenhang beider Felder bei der Verbreitung von Internet-Memes weiter zu explorieren.

Mit der Verbreitung von Informationen beschäftigt sich vor allem die Diffusionsforschung, auf Basis derer im Folgenden auch die Verbreitung von BSIM operationalisiert wird. Diffusion beschreibt dabei den Prozess „by which an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system“ (Rogers 2003: 5). Sie setzt sich also konkret mit der Frage auseinander, wie sich Innovationen in sozialen Systemen über die Zeit ausbreiten (Bilandzic/Koschel 2016: 123). Rogers (2003: 10) definiert Innovation als „idea, practice, or object that is perceived as new by an individual or other unit of adoption“. Da die Adaption von Internet-Memes auf der Variation der sprachlichen und/oder bildlichen Kompo­nente beruht, werden diese Adaptionen als Innovationen betrachtet, die dann in dem jeweiligen sozialen System diffundieren. Damit sind folgende diffusionstheoretisch verankerten Dimen­sionen für die Verbreitung von BSIM von Interesse: die Innovation, der Kommunikationskanal, die Zeit und das soziale System (Rogers 2003: 10).

2.2.1 Innovation

Die Diffusion einer Innovation in einem sozialen System ist sowohl vom Grad der relativen Neuheit abhängig (Rogers 2003: 12) als auch von deren Qualität (Gladwell 2002: 92). Dabei wurde festgestellt, dass Kompatibilität die Übernahmewahrscheinlichkeit fördert (Rogers 2003: 15; Spitzberg 2014: 318). Kompatibilität meint die Vereinbarkeit einer Innovation mit beste­henden Werten und Einstellungen, bereits eingeführten Ideen oder den Bedürfnissen des Über­nehmers (Fliegel/Kivlin 1966: 246). Die Viralitätsforschung zeigt dabei, dass vor allem emo­tional aufgeladene und humorvolle Inhalte sowie intertextuelle Bezüge die Weiterleitung be­günstigen (Berger 2014; Berger/Milkman 2012; Porter/Golan 2006; Kim 2015; Phelps et al. 2004; Brown et al. 2010; Hack/Schumann 2011; Segev et al. 2015).

Weitere Faktoren, die die Übernahmewahrscheinlichkeit von BSIM positiv beeinflussen könn­ten, sind die Erprobbarkeit und die Re-Inventionsmöglichkeit (Rogers 2003: 17). Die Re-Invention von Memes wird durch sog. Meme-Generatoren befördert. So ist es denkbar, dass die Übernehmenden das Meme-Template in einer veränderten Weise nutzen, indem sie es sprach­lich neu kontextualisieren. Die Retweet-Funktion bei Twitter bietet dann das Potenzial die Re-Invention bzw. Meme-Adaptionen im sozialen System zu erproben und damit zu deren Diffu­sion beizutragen. Besteht nämlich die Möglichkeit, die Anwendung der Innovation bei anderen Nutzern zu sehen, wird die Übernahmewahrscheinlichkeit abermals gesteigert (Rogers 2003: 16).

Diffusionstheoretische Untersuchungen zur Übernahmewahrscheinlichkeit einer Innovation müssen auch deren Komplexitätsgrad berücksichtigen. Dabei ist anzunehmen, dass eine beson­ders komplexe Innovation eine verringerte Übernahmewahrscheinlichkeit aufweist (Rogers 2003: 17). Die Frage, inwieweit die Komplexität von BSIM deren Verbreitung beeinflusst, wird in diesem Beitrag Gegenstand einer ersten Exploration sein. Da es sich im Fall des Merkel-Memes um ein prototypisches BSIM handelt, das überwiegend auf sprachlicher Ebene variiert wird, nehmen wir zunächst die sprachliche Komplexität in den Fokus (Osterroth 2015: 31).

2.2.2 Kommunikationskanal

Rogers (2003) postuliert, dass der Kommunikationskanal eine entscheidende Rolle für die Dif­fusion von Innovationen spielt. In diesem Zusammenhang sind vier Punkte relevant:

„(1) an innovation, (2) an individual or other unit of adoption that has knowledge of the innovation or experience with using it, (3) another individual or other unit that does not yet have experience with the innovation, and (4) a communication channel connecting the two units“ (Rogers 2003: 18).

Nicht erst seit Donald Trump ist der Microblogging-Dienst Twitter einer der wichtigsten Kom­munikationskanäle der sozialen Medien. Die Nutzenden sind hier unterschiedlich stark mit­einander vernetzt. Der Grad dieser Vernetzung lässt sich wiederum an deren Persönlichkeits­merkmalen festmachen. Extravertierte Nutzer sind stärker bei Twitter und in anderen sozialen Medien vernetzt (Acar/Polonsky 2008; Schrammel et al. 2009; Selfhout et al. 2010; Chen 2010; Quercia et al. 2011; Plank/Hovy 2015), was wiederum die Diffusion von BSIM begünstigen könnte. Ausserhofer/Maireder (2013) konnten außerdem inhalts- und netzwerkanalytisch zei­gen, dass sich der Grad der Transparenz der Nutzerangaben des jeweiligen Twitter-Profils (Klarname, Geschlecht, Nutzerrolle) positiv auf die Verbreitung von Inhalten auswirkt.

2.2.3 Zeit

Hinsichtlich der zeitlichen Dimension muss zwischen der Mikro- und der Makroebene unter­schieden werden (Rogers 2003). Auf der Mikroebene steht der konkrete Zeitpunkt der Über­nahme einer Innovation durch die Twitter-Nutzer_innen im Fokus. Dadurch kann die temporale Diffusion des Merkel-Memes rekonstruiert werden. Die Verbreitung der Meme-Adaptionen wird dabei als kumulierte Adaptionsrate über die Zeit verstanden. Auf der Makroebene ist die Zeit bedeutend für die nutzerübergreifende Verbreitung einer Innovation innerhalb eines sozi­alen Systems. Die Verbreitung findet idealtypisch in Form einer S-Kurve statt. Dabei ergeben sich nach Rogers (2003: 247–264) fünf verschiedene Übernehmer­gruppen, die sich maßgeblich in ihrer Anzahl und in ihren Persönlichkeitseigenschaften unter­scheiden: Innovatoren, frühe Übernehmer, frühe Mehrheit, späte Mehrheit und Nachzügler (vgl. Abb. 2).

Abbildung 2: Diffusion auf Mikro- und Makroebene. Quelle: Karnowski/Kümpel (2016: 102) nach Rogers (2003: 281)

Zu Beginn des Diffusionsprozesses besteht noch eine verhältnismäßig geringe Über­nahme­rate. An dem Punkt der kritischen Masse entscheidet sich, ob die Mehrheit der Individuen in einem sozialen System eine Innovation übernehmen wird, ihre Diffusion also rapide ansteigt oder sich die Innovation nicht durchsetzen kann. Für die erfolgreiche Diffusion einer Inno­va­tion sind in erster Linie die Innovatoren und frühen Übernehmer verantwortlich. Diese Über­nehmer­gruppen sind in der Regel gut vernetzt und gelten als Meinungsführer (Rogers 2003). Ob sie tatsächlich die Verbreitung von Informationen wie BSIM fördern, ist ein umstrittenes Thema in der Diffusionsforschung (Spitzberg 2014: 321–323). Einerseits haben empirische Arbeiten gezeigt, dass gut vernetzte Meinungsführer entscheidend zur Verbreitung und Sichtbarkeit von Informationen beitragen (Flynn et al. 1996; Gladwell 2002; Dholakia et al. 2004; Cha et al. 2010; Iyengar et al. 2011; Luarn et al. 2014). Andererseits deuten einige Studien darauf hin, dass die Diffusion von Innovationen nicht zwangsläufig von gut vernetzten Meinungsführern, sondern von Faktoren wie zum Beispiel sozialer Ähnlichkeit oder Aufnahmebereitschaft ab­hängig ist (Watts 2007; Watts/Dodds 2007; Harrigan et al. 2012; Weng et al. 2013; Zhang et al. 2015).

2.2.4 Soziale Systeme

An den Faktor Zeit schließt sich die Frage nach der Beschaffenheit der sozialen Systeme bei der Diffusion von BSIM an. Sowohl die zeitlichen Dimensionen als auch das soziale System befinden sich in einem interdependenten Verhältnis zur Innovationsdiffusion (Rogers 2003: 247ff.). Dabei sind drei verschiedene Konstellationen denkbar: Ein stabiles Gleichgewicht be­steht, wenn sich keine Innovation in einem sozialen System verbreitet. Ein dynamisches Gleich­gewicht besteht, wenn sich Innovationen in dem Maße verbreiten, wie sich das soziale System daran anpassen kann. Ein Ungleichgewicht herrscht, wenn der diffusionsbedingte Wandel zu schnell voranschreitet, als dass sich das soziale System daran anpassen könnte. Die Folge wäre hier das Scheitern der Diffusion (ebd.: 24–31).

Die Diffusion von Innovationen wird auf Twitter zum einen durch die Vernetzung der Nut­zer_innen befördert, zum anderen spielt die Microblogging-Memetik (u. a. Hashtags, Retweets) eine wichtige Rolle (Moskopp/Heller 2013: 129ff.). So konstituiert der Hashtag #MerkelMeme ein temporäres soziales System, in dem die Nutzenden einen gemeinsamen Kommunikations­anlass haben. Gleichzeitig gewährleistet der Hashtag die Auffindbarkeit der In­halte. Außerdem tragen Retweets und Favorisierungen zur Sichtbarkeit und Verbreitung ei­ner Meme-Adaption innerhalb des Systems bei. Dabei ist bisher nicht erforscht, wie sich die ver­­schiedenen Über­nehmergruppen in ihrem Einsatz der memetischen Funktionen unter­scheiden.

3 Forschungsfragen

Unsere Forschungsfragen greifen die oben skizzierten Diffusionsbedingungen nach Rogers (2003) auf. In Bezug auf den Kommunikationskanal bzw. die Vernetzung der Nutzenden ist – wie in der theoretischen Herleitung beschrieben (Abschnitt 2.2.2) – ein Einfluss auf die Diffu­sion des Merkel-Memes zu erwarten. Dabei wird der Vernetzungsgrad von uns als Eigenschaft der Nutzenden verstanden. Die Nutzer_innen identifizieren wir wiederum mit den Informatio­nen des jeweiligen Nutzerprofils.

FF1: Welche Eigenschaften der Nutzer tragen zur Verbreitung des Merkel-Memes bei?

Da die zeitliche Dimension eine zentrale Rolle für Diffusionsprozesse spielt, berücksichtigen wir sowohl die Mikro- als auch die Makroebene (Abschnitt 2.2.3).

FF2a: Wie verbreitete sich das Merkel-Meme auf Twitter? (Mikroebene)

FF2b: Wodurch zeichnen sich die verschiedenen Übernehmergruppen aus? (Makroebene)

Hinsichtlich des sozialen Systems beziehen wir die memetischen Funktionen von Twitter in unsere Überlegungen mit ein (Abschnitt 2.2.4) und setzen diese ins Verhältnis zu den von Rogers (2003) definierten Übernehmergruppen.

FF3: Unterscheiden sich die Übernehmergruppen im Einsatz der memetischen Funktionen?

Die Rolle der Eigenschaften der Innovation selbst wird in diesem Beitrag Gegenstand einer ersten Annäherung sein. Da die Übernahmewahrscheinlichkeit einer Innovation in Zu­sam­men­hang mit ihrem Komplexitätsgrad zu denken ist (Abschnitt 2.2.1), fragen wir zunächst, inwie­fern die sprachliche Komplexität, die wir hier sehr vereinfacht mit der Länge und dem Umfang von sprachlichen Einheiten identifizieren, einen Einfluss auf die Diffusion des Merkel-Memes hat.

4 Methode

4.1 Datenbasis und methodisches Vorgehen

Ziel dieses Beitrages ist es, den Verbreitungsweg des Merkel-Memes auf Twitter zu rekonstru­ieren. So kann die Frage beantwortet werden, welche Akteure bzw. Nutzer_innen bei der Ent­stehung und Verbreitung von Internet-Memes beteiligt sind. Hierfür stand ein voll­ständiger Da­tensatz zur Verfügung, der alle Tweets mit dem Hashtag #MerkelMeme im Zeitraum zwischen 8. und 30. Juni 2015 enthielt (N = 4475).4 Formale Variablen wie beispielsweise der Zeitpunkt der Tweets, die Anzahl der Favorisierungen, die Anzahl der Retweets sowie spezifische Infor­mationen zu den jeweiligen Nutzenden waren durch die automatisierte Datenabfrage bereits in der Datenbasis enthalten.

Um die Forschungsfragen zu beantworten, wurde schließlich eine quantitative Inhaltsanalyse (Rössler 2010) der Tweets durchgeführt. Die einzelnen Analyseeinheiten stellten dabei die Nut­zenden, die einzelnen Tweets sowie die jeweils darin enthaltenen Meme-Adaptionen dar. Drei intensiv geschulte Codierer codierten die Daten nach den Vorgaben des Codebuchs. Nach ei­nem Pretest, weiteren Modifikationen am Codebuch und einer erneuten Codierschulung wurde im Anschluss die Haupterhebung durchgeführt. Dabei wurden zufriedenstellende Reliabilitäts­werte erreicht (Krippendorf’s \(α = .86 - 1\)). Die anschließende Auswertung der Daten erfolgte in IBM SPSS Statistics.

4.2 Operationalisierung

Die Kategorien der Inhaltsanalyse basieren auf dem ausgeführten theoretischen Rahmen und dem Forschungsstand zur Informationsdiffusion im Internet. Da sich die vorliegende Studie insbesondere mit der Rolle der Nutzenden bei der Verbreitung von Internet-Memes beschäftigt, werden vor allem die Diffusionsfaktoren Kommunikationskanal, Zeit und soziales System (Rogers 2003) betrachtet. Für den Faktor Innovation sollen erste explorative Erkenntnisse mit Blick auf die sprachliche Komplexität der Adaptionen des Merkel-Memes generiert werden.

4.2.1 Kommunikationskanal

Wie bereits angesprochen wurde, kann Twitter als System miteinander vernetzter Nutzender verstanden werden, das heißt als Kommunikationskanal. Der Grad dieser Vernetzung wird durch die jeweilige Anzahl der Follower, die Anzahl der Follows und die Zahl der Listen­einträge beschrieben (Kaushik 2010: 272). Es ist zu erwarten, dass die Diffusion der Meme-Adaptionen in Zusammenhang mit diesen Kennzahlen steht. Sie werden folglich als Indikatoren für die Vernetzung der Nutzer herangezogen.

Wie außerdem gezeigt werden konnte, wirkt sich auch Transparenz auf die Weiterverbreitung von Inhalten auf Twitter aus (Ausserhofer/Maireder 2013). Daher wurde codiert, ob die Nut­zenden ihren Klarnamen angegeben hatten und ob das Geschlecht erkennbar war.5 Ferner wurde jeweils eine Nutzerrolle codiert. Hierunter ist die jeweilige Diskursrolle der Nutzenden auf Twitter zu verstehen. Die Bildung der Kategorien basierte auf den Nutzerangaben auf den ein­zelnen Twitter-Profilen und erfolgte zunächst induktiv. Anschließend wurden daraus fünf über­geordnete Kategorien abgeleitet: Privatnutzer_innen, Politiker_innen, Journalist_innen, Expert_innen6 und Marken.

4.2.2 Zeit

Der Faktor Zeit wird auf der Mikroebene durch den Innovationsentscheidungsprozess beschrie­ben (Rogers 2003). Im Vordergrund steht also in diesem Fall die Frage, zu welchem Zeitpunkt sich eine Nutzerin oder ein Nutzer dazu entscheidet eine eigene Meme-Adaption zu twittern oder eine bereits vorhandene Adaption zu retweeten. Die Verbreitung der Meme-Adaptionen soll daher als kumulierte Adaptionsrate über die Zeit verstanden und schließlich als Lebens­zyklusmodell sichtbar gemacht werden.

Auf der Makroebene findet die Diffusion in einzelnen Übernehmergruppen statt. Die Opera­tionalisierung folgt dabei der von Rogers (2003) festgelegten Klassifizierung und Quantifi­zierung. Daher wurden die ersten 2.5 Prozent der Nutzenden, die an der Verbreitung des Merkel-Memes beteiligt waren, den Innovatoren zugeschrieben. Die nächsten 13.5 Prozent stellte die frühe Mehrheit dar. Mit jeweils 34 Prozent folgten die Gruppen der frühen und der späten Mehrheit. Die letzten 16 Prozent waren die Nachzügler.7 Hier gilt es herauszufinden, wie sich die einzelnen Nutzerrollen auf die verschiedenen Stadien der Meme-Diffusion auf der Makroebene verteilen.

4.2.3 Soziales System

In Bezug auf das soziale System stellen die Microblogging-Memetik (Moskopp/Heller 2013: 129ff.) und die Vernetzung der Nutzenden wichtige Voraussetzungen für die Verbreitung der Adaptionen des Merkel-Memes unter der Bedingung eines dynamischen Gleichgewichtes dar. Während der Hashtag #MerkelMeme als Aufgreifkriterium zur Identifizierung relevanter Tweets diente, wurden die Anzahl der Retweets und die Anzahl der Favorisierungen als Indi­katoren für die Verbreitung und Sichtbarkeit der Meme-Adaptionen in dem sozialen System verwendet. Daraus wurde ein summativer Sichtbarkeitsindex berechnet. Dabei wurde die An­zahl der Retweets doppelt gewichtet, da diese Funktion direkt zur Diffusion beiträgt. So werden diese sofort im Newsfeed bei Twitter angezeigt, wohingegen die Anzahl der Favorisierungen indirekt zur Positionierung im Newsfeed beiträgt. Der Sichtbarkeitsindex dient vor allem als abhängige Variable.

4.2.4 Innovation

Aus diffusionstheoretischer Sicht ist davon auszugehen, dass mit steigender Komplexität der Meme-Adaptionen deren Übernahmewahrscheinlichkeit sinkt (Rogers 2003: 17). Da es sich im Fall des Merkel-Memes um ein prototypisches BSIM handelt, das überwiegend auf sprachlicher Ebene variiert wird, soll dabei die sprachliche Komplexität untersucht werden (Osterroth 2015: 31). Demzufolge dient die Anzahl der Zeichen, Wörter und Sätze in den jeweiligen Meme-Adaptionen als Indikator für deren sprachliche Komplexität.

5 Ergebnisse

Von allen Tweets mit dem Hashtag #MerkelMeme, die im Untersuchungszeitraum analysiert wurden (N = 4475), enthielt der Großteil (n = 3253) einzelne Meme-Adaptionen, die zur wei­teren Auswertung betrachtet wurden. Die übrige Metakommunikation zum Merkel-Meme (n = 1222) wird in dieser Studie nicht eingehender beleuchtet. Dabei lagen in knapp einem Viertel (n = 785) der Fälle originäre Meme-Adaption vor, wohingegen der Rest (n = 2468) aus Retweets dieser Adaptionen bestand (\(χ²(4, n = 3253) = 204.39\), \(p < .000\), Cramers’s V = .21). Je nach Analyseeinheit werden nachfolgend entweder die originären Meme-Adaptionen in den Tweets oder die Gesamtheit der Nutzer über Tweets und Retweets hinweg betrachtet, weshalb die zu­grunde gelegten Fallzahlen variieren können.

Bereits die deskriptive Statistik zeigt, dass die originären Meme-Adaptionen ganz unterschied­liche Sichtbarkeitswerte erreichen (M = 12.46, SD = 46.35). Während manche Adaptionen 0 Punkte erhalten, kommt die sichtbarste Variante auf einen Indexwert von 815 Punkten. Es wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung 447 Mal favorisiert und 184 Mal geretweetet. Es stellt sich daher die Frage, welche Faktoren den Erfolg des Merkel-Memes bestimmen und damit zu dessen Verbreitung beitragen.

5.1 FF1: Nutzereigenschaften

Die erste Forschungsfrage betrifft die Eigenschaften der Nutzenden bei der Verbreitung der Adaptionen des Merkel-Memes. Hierzu wurde zunächst überprüft, ob ein Zusammenhang zwi­schen der Vernetzung der Nutzenden und der Sichtbarkeit der Meme-Adaptionen besteht. Die Rangkorrelation nach Spearman zeigt signifikante Zusammenhänge zwischen der Anzahl der Follower (rsp = .47, p < .000), der Anzahl der Follows (rsp = .27, p < .000) sowie der Anzahl der Listeneinträge (rsp = .40, p < .000) und dem Sichtbarkeitsindex. Je stärker die Nutzenden also untereinander vernetzt waren, desto sichtbarer waren ihre Meme-Adaptionen.

Weiterhin wurde überprüft, wie sich die Transparenz der Nutzerprofile, also in diesem Fall die der Urheber_innen der Meme-Adaptionen auf die Diffusion des Memes auswirkt. Dabei wurde zunächst untersucht, ob die Angabe des Klarnamens einen Einfluss auf die Sichtbarkeit der Meme-Adaptionen hat. Allerdings zeigt der T-Test, dass Meme-Adaptionen, die unter Angabe des Klarnamens getwittert wurden (M = 15.83, SD = 44.11) sich nicht signifikant von solchen unterschieden, bei denen der Klarname nicht eindeutig erkennbar war (M = 9.60, SD = 48.03) (t(778) = 1.90, p = .06).

Ein differenziertes Bild ergibt sich in Bezug auf die Erkennbarkeit des Geschlechtes der twee­tenden Nutzer_innen. Hier liefert der T-Test signifikante Unterschiede (t(775) = 4.11, p < .000). Demnach sind Adaptionen, deren Urheber_innen eindeutig als weiblich, männlich oder als In­stitution erkennbar waren, signifikant sichtbarer (M = 14.62, SD = 51.52) als solche, die von nicht eindeutig identifizierbaren Nutzenden stammten (M = 4.71, SD = 16.02).

Mit Blick auf die Verteilung der Nutzerrollen bei Urheber_innen der Meme-Adaptionen wird deutlich, dass der Großteil der Resonanz zum Merkel-Meme durch Privatnutzende entstand. Als zweitstärkste Gruppe folgten Nutzende aus dem Bereich Journalismus. Zusammen bestrit­ten diese beiden Gruppen 90 Prozent des gesamten Meme-Aufkommens. Weitere Nutzerrollen wie Expert_innen, Marken und Politik spielten bei der Diffusion des Merkel-Memes eine eher untergeordnete Rolle (vgl. Abb. 3).

Abbildung 3: Verteilung der Nutzerrollen

Bei genauerer Betrachtung der beiden größten Gruppen fällt auf, dass besonders sichtbare Meme-Adaptionen vor allem aus dem journalistischen Bereich stammten. Im Gegensatz zu de­nen der Privatnutzer (M = 8.79, SD = 43.42) erreichten ihre Meme-Variationen signifikant hö­here Sichtbarkeitswerte (M = 20.62, SD = 52.90) (t(319) = 2.83, p = .01). Dies überrascht nicht, da anzunehmen ist, dass gerade Journalist_innen sowie Medienorganisationen aufgrund ihrer Diskursrolle als Meinungsführer stärker vernetzt sind als solche Personen, die Twitter rein pri­vat nutzen. Die Daten bestätigen diese Annahme. So erzielen Nutzende aus dem Journalismus eine höhere Reichweite. Sie haben signifikant mehr Follower (M = 51147.95, SD = 272633.69) als Privatnutzer_innen (M = 7672.73, SD = 150560.70) (t(256) = 2.15, p = .03). Auch die Zahl der Listeneinträge ist signifikant größer (M = 305.46, SD = 1085.58) als bei der privaten Nut­zerschaft (M = 45.13, SD = 371.53) (t(222) = 3.35, p = .001).

In Bezug auf die Nutzereigenschaften kann daher also zusammengefasst werden, dass sichtbare Adaptionen des Merkel-Memes vor allem auf Nutzende aus dem Journalismus zurückzuführen sind. Eine gute Vernetzung und eine hohe Transparenz wirken sich dabei positiv auf die Diffu­sion der Meme-Adaptionen aus.

5.2 FF2a: Verbreitung auf der Mikroebene

Die Verbreitung des Merkel-Memes auf der Mikroebene zeigt eine über die Zeit abfallende Präsenz der Tweets und Retweets. 94 Prozent (n = 4221) des gesamten Aufkommens kon­zentriert sich auf die ersten vier Tage. 45 Prozent (n = 2003) der Tweets entfallen auf den ersten und 35 Prozent (n = 1565) auf den zweiten Tag. Mit elf Prozent (n = 505) lässt die Sichtbarkeit dann am dritten Tag deutlich nach. Am vierten Tag machen die Tweets zum Merkel-Meme sogar nur noch drei Prozent (n = 148) der gesamten Resonanz aus (vgl. Abb. 4). Die Ver­breitung erinnert dabei stark an die typischen Lebenszyklusmodelle der Diffusionsforschung.

Abbildung 4: Verbreitung der Tweets zum Merkel-Meme in den ersten vier Tagen

Betrachtet man nun die Tweets, die auch Meme-Adaptionen enthalten, wird deutlich, dass der Anteil der Tweets mit originären Adaptionen am ersten Tag noch am höchsten ist und in der Folge sukzessive abnimmt. Weist am ersten Tag noch knapp jeder dritte Tweet eine originäre Meme-Adaption auf, trifft dies am vierten Tag nur noch auf jeden achten Tweet zu. Dagegen nimmt der Anteil an Retweets im Zeitverlauf weiter zu (vgl. Tab. 1). Die Befunde illustrieren einen hohen Stellenwert des Faktors Zeit auf der Mikroebene bei der Diffusion des Merkel-Memes.

Tabelle 1: Verteilung der Meme-Adaptionen in den ersten vier Tagen.
Tweets Retweets Gesamt
n % n % n %
Tag 1 (08. Juni) 464 29.1 1131 70.9 1595 100
Tag 2 (09. Juni) 245 21.2 908 78.8 1153 100
Tag 3 (10. Juni) 56 16.1 291 83.9 347 100
Tag 4 (11. Juni) 20 12.7 137 87.3 157 100
χ²(3, n = 3253) = 49.89, p < .000, Cramers’s V = .12

5.3 FF2b: Verbreitung auf der Makroebene

Ein weiterer zeitbezogener Faktor ist die Verbreitung des Memes auf der Makroebene. Die Diffusion vollzieht sich dabei durch die aktive Adaption und Replikation verschiedener Über­nehmergruppen. Tab. 2 zeigt die Zusammensetzung der einzelnen Gruppen im Hinblick auf die Nutzerrollen. Nutzende aus dem Bereich Journalismus sind demnach vor allem in den Grup­pen der Innovatoren und frühen Übernehmer zu finden. Privatnutzende erreichen ihre größten Anteile in den Gruppen der frühen Mehrheit, der späten Mehrheit und der Nachzügler. Am seltensten sind sie unter den Innovatoren zu finden.

Tabelle 2: Verteilung der Nutzerrollen in den Übernehmergruppen.
Privat Journalismus Experten Marken Politik
n % n % n % n % n %
Innovatoren 42 53 33 41 3 4 2 2 0 0
Frühe Übernehmer 299 72 89 21 12 3 10 2 7 2
Frühe Mehrheit 849 80 115 11 37 4 14 1 39 4
Späte Mehrheit 815 78 124 12 61 6 20 2 21 2
Nachzügler 380 76 66 13 28 6 13 3 10 2
χ²(16, n = 3089) = 104.45, p < .000, Cramers’s V = .09

Dieser Befund mag nicht überraschen, zumal Journalist_innen wie auch Medienorganisationen eine genuine Affinität für aktuelle Trends in den sozialen Medien besitzen, zu denen auch In­ternet-Memes zählen. Zudem handelt es sich im Fall des Merkel-Memes um ein Meme, das sich im Kontext eines politischen Großereignisses verbreitet hat und somit einen gewissen Nachrichtenwert besitzt. Was sich auf der Ebene des Kommunikationskanals bereits angedeutet hat wird an dieser Stelle nochmals evident: Die Diffusion des Merkel-Memes ist maßgeblich auf die Beteiligung früher Übernehmergruppen zurückzuführen, die sich durch eine dichte Ver­netzung auf Twitter auszeichnen.

Ebenso lässt sich dieser Umstand an den Sichtbarkeitswerten ablesen. Meme-Adaptionen der Innovatoren (M = 31.18, SD = 69.03) und frühen Übernehmer (M = 23.41, SD = 80.46) erlang­ten signifikant mehr Resonanz als jene der frühen Mehrheit (M = 10.56, SD = 36.36), der späten Mehrheit (M = 6.36, SD = 18.21) und der Nachzügler (M = 6.38, SD = 14.72) (F(4,780) = 5.30, p < .000). Somit kann die in der Diffusionsforschung postulierte Rolle der frühen Überneh­mergruppen als Meinungsführer also auch für die Verbreitung von Internet-Memes bestätigt werden.

5.4 FF3: Einsatz der memetischen Funktionen

An den Faktor Zeit schließt sich die Frage nach der Beschaffenheit des sozialen Systems bei der Diffusion des Merkel-Memes an. Wie es sich bei der Verbreitung auf Mikroebene bereits angedeutet hat, ist von einem dynamischen Gleichgewicht auszugehen, in dem das Meme we­der zu schnell noch zu langsam in den jeweiligen Übernehmergruppen diffundiert.

Hinsichtlich des Einsatzes der memetischen Funktionen bei Twitter lassen sich signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen erkennen. Demnach tendieren die Innovatoren, die frühen Übernehmer und die frühe Mehrheit eher dazu, eigene Meme-Adaptionen zu ent­wickeln und zu streuen, wohingegen die späte Mehrheit und die Nachzügler sich eher auf das Retweeten dieser Adaptionen fokussieren (vgl. Tab. 3).

Tabelle 3: Art der Tweets in den Übernehmergruppen.
Tweets Retweets Gesamt
n % n % n %
Innovatoren 39 48 43 52 82 100
Frühe Übernehmer 154 35 285 65 439 100
Frühe Mehrheit 285 26 821 74 1106 100
Späte Mehrheit 228 21 878 79 1106 100
Nachzügler 79 15 441 85 520 100
χ²(4, n = 3253) = 85.11, p < .000, Cramers’s V = .16

5.5 Sprachliche Komplexität

Die vierte Dimension, die bei der Diffusion des Merkel-Memes betrachtet werden soll, ist das Meme an sich. Hier möchte die vorliegende Studie erste explorative Einblicke generieren. Es wird überprüft, welchen Einfluss die sprachliche Komplexität auf die Verbreitung ausübt. Die Annahmen aus der Diffusionsforschung lassen dabei vermuten, dass eine hohe Komplexität die Übernahmewahrscheinlichkeit verringert. Die Komplexität der Sprache in den Meme-Adap­tionen wurde anhand der sprachlichen Länge auf Zeichen-, Wort- und Satzebene gemessen. Die Datenanalyse zeigt, dass kein Zusammenhang zwischen der Sichtbarkeit der Meme-Variatio­nen und der Sprachkomplexität besteht. Weder die Zeichen- (rsp = .07, p = .08), noch die Wort- (rsp = .06, p = .14) oder Satzzahl (rsp = .06, p = .15) korrelieren mit der Sichtbarkeit der Meme-Adaptionen. Dies ist sicherlich ein Hinweis darauf, dass Komplexität in Bezug auf Internet-Memes ein mehrdimensionales Konstrukt ist. Obwohl das Bild in dem prototypischen Aufbau der Merkel-Meme-Adaptionen relativ konstant ist, erfolgen zum Teil auch visuelle Variationen. Mit Blick auf die Frage nach der Komplexität von Internet-Memes muss daher künftig auch das Bild und der Zusammenhang zwischen Bild und Sprache stärker theoretisch, methodisch und empirisch einbezogen werden.

6 Diskussion

Ziel dieses Beitrages war es, die Verbreitung des Merkel-Memes auf Twitter zu analysieren. Im Rückgriff auf Theorien und Befunde der Diffusionsforschung (u. a. Rogers 2003) sollte dabei die Rolle der Nutzenden bei der Entstehung und Verbreitung von Internet-Memes näher betrachtet werden. Die Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse lassen Rückschlüsse auf un­terschiedliche Erfolgs- und Verbreitungsbedingungen von Internet-Memes zu, aus denen sich vor allem im Kontext des politischen Memes (Shifman 2014; Ross/Rivers 2017) konkrete Im­plikationen für deren strategischen Einsatz ableiten lassen.

Die Analyse der Verbreitung des Merkel-Memes auf der Mikroebene verdeutlicht, dass die zeitlichen Entscheidungspunkte der Nutzer_innen, die zu dem Thema getweetet haben, sehr dicht beieinander lagen. Der Großteil der Tweets wurde sogar innerhalb der ersten vier Tage nach Aufkommen des Themas abgesetzt, wobei die Resonanz zyklisch nachließ. Dies führt einmal mehr zu der Frage, inwieweit die moderne Internet-Memetik im Zusammenhang mit viralen Verbreitungsprozessen steht (Shifman 2014). Reichweitenstarke Portale wie beispiels­weise buzzfeed.com, 4chan.org oder 9gag.com, sogenannte Content Aggregators, nehmen da­bei eine wichtige Rolle ein. Diese sind ununterbrochen auf der Suche nach innovativen und unterhaltsamen Inhalten, wobei sich das Internet-Meme hier als inhärenter Bestandteil und manches sogar als Viralschlager etablieren konnte. Viele Plattformen warten sogar mit eigenen Meme-Generatoren auf, die technische Hürden bei der Übernahme und Verbreitung von Meme-Adaptionen reduzieren. Bezogen auf die Diffusionsforschung entspricht dies dem Kriterium der Erprobbarkeit, welche die Anwendbarkeit vor Augen führt und auf diese Weise den Über­nahmeentscheidungsprozess begünstigt (Rogers 2003: 17; Spitzberg 2014: 319).

Im Falle des Merkel-Memes stellte die Plattform buzzfeed.de innerhalb kürzester Zeit einen entsprechenden Meme-Generator bereit, der auf Twitter unter dem Hashtag #MerkelMeme be­worben wurde. Einerseits bedeutet ein solches Angebot für die Plattform die Steigerung der Nutzerinteraktion, andererseits ergibt sich für die Nutzenden die einfache Möglichkeit zur Par­tizipation, in diesem Fall zur Teilnahme am politischen Diskurs rund um den G7-Gipfel. Inter­net-Memes besitzen folglich ein hohes Mobilisierungspotenzial, da sie den Kerngedanken des Web 2.0 als sog. Mitmachweb paradehaft verkörpern. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich ganze Netzkulturen rund um dieses moderne Internet-Phänomen gebildet haben (Pauliks 2017).

Weiterhin wurden in der vorliegenden Studie die einzelnen an der Diffusion des Merkel-Memes beteiligten Nutzenden näher betrachtet. Sie nehmen bei der Verbreitung von Internet-Memes eine zentrale Rolle ein, da sie im Fall von Twitter ein soziales System untereinander vernetzter individueller Einheiten bilden. Hier konnte gezeigt werden, dass eine dichte Vernetzung ein wichtiger Prädikator für die Verbreitung der Meme-Adaptionen ist. Befunde aus der Viralitäts­forschung zeigen, dass bekannte Sender und extrovertierte Multiplikatoren die Weiterleitung begünstigen (Chiu et al. 2007; Ho/Dempsey 2010; Huang et al. 2009). Zudem gelten Bindungs­stärke und Affinität zum Sender einer Botschaft sowie die Persönlichkeitsstärke der Nutzenden als wichtige Einflussgrößen in Bezug auf das Weiterleitungsverhalten (De Bruyn/Lilien 2008; Hack/Schumann 2011). Für die Internet-Memetik scheinen möglicherweise ähnliche Wir­kungsmechanismen zuzutreffen.

Was nicht uneingeschränkt geklärt werden konnte, ist der Einfluss der Transparenz der Nutzerprofile auf die Diffusion von Internet-Memes. Während die Angabe des Klarnamens kei­nen direkten Effekt hatte, war die Erkennbarkeit des Geschlechts ein relevanter Faktor. Daher gilt es weiterhin zu explorieren, welche Faktoren nutzerseitig auf die Verbreitung von Internet-Memes wirken. Experimentelle Studien könnten hier wichtige Einblicke liefern.

Die Erkenntnis, dass bei der Verbreitung des Merkel-Memes neben Privatnutzern vor allem Nutzer_innen sowie Organisationen aus dem journalistischen Bereich beteiligt waren, führt zu der Frage, inwieweit memetische Effekte gezielt ausgelöst und als Interaktions- und Partizi­pa­tions­strategie institutionalisiert werden können. Überdies ver­deut­lichen die Ergebnisse, dass die Diffusion des Merkel-Memes auf Twitter maßgeblich von der Beteiligung früher Über­neh­mer­gruppen abhing, die sich durch eine dichte Vernetzung aus­­zeichneten. Diese wiederum un­ter­schieden sich im Einsatz der memetischen Funktionen: Wäh­rend frühe Über­nehmergruppen vor allem eigene Meme-Variationen tweeteten, dienten die­se als Ko­pier­vorlagen für die späteren Übernehmer, die sich vor allem auf das Retweeten konzentrierten.

Lässt sich das Prinzip der Microblogging-Memetik (Moskopp/Heller 2013: 129ff.) folglich stra­te­gisch nutzen, um gezielt einzelne Nutzende oder bestimmte Zielgruppen zu mo­bi­li­sie­ren? Dafür spricht in jedem Fall die hohe „Shareability“ von Internet-Memes, die eine inno­va­ti­ve und alternative Variante der Aufbereitung, Kommentierung und Visualisierung von (in die­sem Fall politischen) Inhalten im Internet darstellen. Im Fall des Merkel-Memes ließen sich unter anderem durch inhaltsanalytische und netzwerkanalytische Betrachtungen Erkennt­nisse über das politische Meinungsklima auf Twitter sowie relevante Influencer gewinnen. So könnten letztendlich politische Kampagnen zielgruppengerecht optimiert werden. Dem gegenüber steht die Gefahr, dass unerwünschte memetische oder virale Effekte eintreten könnten. Ein Beispiel hierfür ist die Verbreitung von Fake News. Abb. 5 zeigt, wie sich ein falsches Zitat des damaligen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump im Wahlkampf zur US-Wahl 2016 in Form eines BSIM verbreitete. Auch gehören Shitstorms oder Em­pör­ungs­wellen zum Repertoire dieser negativen Effekte. Die Unkontrollierbarkeit solcher Phä­no­me­ne birgt Gefahren für die Glaubwürdigkeit und Reputation der entsprechenden Kom­munikatoren, welche bei einem stra­tegischen Einsatz in jedem Fall bedacht werden sollten.

Abbildung 5: Fake News in Internet-Memes im Kontext der US-Wahl. Quelle: Daro (2016)

Die konkreten Eigenschaften von Internet-Memes waren bislang weitestgehend unerforscht. In Anlehnung an die Diffusionsforschung sollte der Faktor Komplexität in dieser Studie explorativ untersucht werden. Die Daten der Inhaltsanalyse zeigten jedoch keinen Zusammenhang zwi­schen der sprachlichen Komplexität und der Sichtbarkeit der Meme-Adaptionen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Länge der sprachlichen Komponente kein hinreichendes Erfolgskrite­rium ist. Für die noch junge Forschung zu Internet-Memes ergeben sich daraus vier Implika­tionen.

Erstens ist Komplexität ein Konstrukt, das nicht alleine durch die reine Länge bzw. Anzahl von sprachlichen Einheiten gemessen werden kann. Insofern muss dies gleichzeitig als ein li­mi­­tierender Faktor dieser Analyse angesehen werden. Es gilt elaboriertere Wege zu finden, sprach­liche Komplexität und deren Einfluss auf die Verbreitung von Internet-Memes zu un­ter­­suchen. Hier sollten sowohl die syntaktische als auch die morphologische Ebene näher be­trach­tet werden, um einen valideren Eindruck von der tatsächlichen sprachlichen Komplexität zu erhalten.

Daran anknüpfend muss zweitens dem Prozess der sprachlichen Bedeutungskonstruktion noch größere Aufmerksamkeit gewidmet werden. In der Diffusionsforschung wird dabei der Faktor Kompatibilität betont (Rogers 2003: 15; Spitzberg 2014: 318). Kompatibilität meint den Zu­sammenhang eines Konzeptes (wie etwa Internet-Memes) mit existierenden Werten, Ein­stellungen oder Bedürfnissen der Zielgruppe (Fliegel/Kivlin 1966: 246). Demnach sollte über­prüft werden, inwieweit auf sprachlicher Ebene Humor, Emotionen und intertextuelle Bezüge her­gestellt werden. In der Meme- und Viralitätsforschung wird immer wieder auf diese inhalt­lichen Kriterien verwiesen, wenn es um die Merkmale für eine erfolgreiche Verbreitung der­ar­tiger Phänomene geht (Berger 2014; Berger/Milkman 2012; Brown et al. 2010; Hack/ Schumann 2011; Kim 2015; Porter/Golan 2006; Segev et al. 2015, Shifman 2014). Insofern gilt es weiter zu untersuchen, welche zielgruppenspezifischen Merkmale ein erfolgreiches Internet-Meme ausmachen.

Drittens muss auch das Bild als wichtiger Bestandteil von Internet-Memes mehr Beachtung finden. Zwar basiert der hier untersuchte prototypische Memetypus vor allem auf der Varia­tion der sprachlichen Komponente, immer wieder sind jedoch auch visuelle Abweichungen zu fin­den. Diese reichen von einfachen technischen Anpassungen über inhaltliche Veränderungen bis hin zu komplexen Fotomontagen (Greer/Gosen 2002; Forster 2003). Der Grad der Bild­komplexi­tät ist also eine Forschungslücke, welche es mit Blick auf die erfolgreiche Verbreitung von Internet-Memes zu schließen gilt.

Daraus ergibt sich viertens die Forderung nach der genaueren Untersuchung des Zusammen­hangs zwischen bildlicher und sprachlicher Komponente. Es liegt die Annahme zugrunde, dass die Bedeutungskonstruktion multimodal erfolgt, also die sprachliche Ebene auf die bildliche rekurriert oder umgekehrt. Inwiefern dabei Komptabilität (Rogers 2003: 15; Spitzberg 2014: 318) oder Inkongruenz (Shifman 2014: 79f.) hergestellt werden und welchen Einfluss diese Faktoren auf die Adaption und Replikation der jeweiligen Memes haben, gilt es auch mit Blick auf die Wirkung bei den Rezipient_innen tiefgreifender zu erforschen.

7 Fazit und Ausblick

Der vorliegende Beitrag trägt zur empirischen Erforschung der Diffusionsfaktoren von Internet-Memes in den sozialen Medien bei. Im Fall des Merkel-Memes konnten gut vernetze Journa­lis­ten und Medienorganisationen als wichtige Nutzerrollen in der Frühphase des Diffusions­prozesses identifiziert werden. Durch die Kreation und Verbreitung zahlreicher Adaptionen, die auf Basis des Bildes von Angela Merkel und Barack Obama entstanden sind, breitete sich das BSIM auf Twitter aus. Demnach konnte diese Studie die in der Theorie ver­mutete Ver­bun­den­heit der Konzepte der Memetik und der Viralität (Shifman 2014: 95) em­pirisch belegen. Aus der Viralitätsforschung ist dabei unter anderem bekannt, dass Altruismus und Selbstdarstellung zentrale Motive der Weiterleitung sind (u. a. Huang et al. 2009; Ho/Dempsey 2010). Ob dieser Zusammenhang ebenfalls auf Adaptions- und Replikationsvorgänge im Rahmen der Internet-Memetik zutrifft, gilt es durch die künftige Meme-Forschung zu überprüfen, beispielsweise im Rahmen von Nutzerbefragungen. Zudem gilt es, konkrete Überschneidungsbereiche wie zum Bei­spiel Komplexität, Humor, Identitäts­konstruktion und Nutzerpartizipation weiter zu erforschen.

Die Befunde eröffnen großes Potenzial hinsichtlich strategischer Einsatzmöglichkeiten von Internet-Memes. Politische Internet-Memes (Ross & Rivers 2017; Shifman 2014: 119) wie das Merkel-Meme bieten die Chance, relevante Zielgruppen zu mobilisieren und zur politischen Partizipation zu animieren. Gleichzeitig können die Inhalte der Informations­gewinnung dienen, indem sie beispielsweise Rückschlüsse auf die öffentliche Meinung zu be­stimm­ten Themen zulassen. Gleichwohl gilt es negative Effekte einer unkontrollierbaren Diffu­sion zu beachten, wie beispielsweise die Verbreitung von Fake News.

In Bezug auf das Verständnis von Internet-Memes als Bild-Sprache-Texte plädieren wir für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Kommunikations- und Medienwissenschaft, Sprach­wissenschaft, Soziologie, Marketing und weiteren Disziplinen, wenn es um die Be­dingun­gen für die Verbreitung von Internet-Memes geht. Gleichzeitig muss dieses enge Be­griffs­verständnis als ein limitierender Faktor dieser Untersuchung angeführt werden. Zwar mani­festieren sich Internet-Memes überwiegend als Bild-Sprache-Texte, jedoch schließt die­ser Fokus andere Provenienzen sich memetisch im Internet verbreitender Phänomene aus. Als Bei­­spiel wäre hier die ALS Ice Bucket Challenge zu nennen, die sich über Facebook ver­breitete und dabei auf Imitation und Weitergabe der Idee durch die Nutzenden beruhte. Insofern gilt es zu überprüfen, inwieweit die Befunde auch unabhängig der jeweils genutzten Modalität zutreffen.

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Datenverfügbarkeit

Alle relevanten Daten befinden sich innerhalb der Veröffentlichung.

Interessenskonfliktstatement

Die Autor:innen erklären, dass ihre Forschung ohne kommerzielle oder finanzielle Beziehungen durchgeführt wurde, die als potentielle Interessenskonflikte ausgelegt werden können.


  1. Auf Twitter werden in der sog. Timeline nutzergenerierte Kurznachrichten (Tweets) aggregiert. Über Hashtags lassen sich diese Nachrichten verschlagworten und auffindbar machen. Jeder Tweet kann von den Nutzer_innen favorisiert und retweetet werden. Favorisierungen sind mit „Gefällt mir“-Angaben bei Facebook vergleichbar. Retweets stellen eine direkte Kopie des ursprünglichen Tweets her und entsprechen im Wesentlichen der „Teilen”-Funktion bei Facebook. Beide Interaktionsformen tragen wesentlich zur Positionierung des Tweets in der Timeline bei. Listen stellen einzelne benutzerdefinierte Nutzergruppen dar.↩︎

  2. Dawkins (1976; 1994: 309) hat den Begriff Mem in Anlehnung an eine mögliche altgriechische Ableitung μίμημα ‘that which is imitated’ erfunden, orientiert sich aber inhaltlich mit seiner Wortneuschöpfung an der ein Jahr zuvor publizierten Idee der Kulturkörperchen von Cloak (1975: 168). „Ich hoffe, meine klassisch gebildeten Freunde werden mir verzeihen, wenn ich Mimem zu Mem verkürze“ (Dawkins 1976; 1994: 309). Der Begriff Meme taucht in diesem Zusammenhang schon bei dem österreichischen Soziologen Ewald Hering und dem deutschen Biologen Richard Semon auf (Shifman 2014: 10).↩︎

  3. Velten (2012: 249) würde den Begriff Internet-Meme als „travelling concept“ bezeichnen.↩︎

  4. Die Daten wurden retrospektiv über das Tool Followthehashtag (http://followthehashtag.com) erhoben, das einen Vollzugriff auf historische Twitter-Daten erlaubt. Der Zeitraum wurde so gewählt, dass ausschließlich im Zuge des G7-Gipfels entstandene Tweets bzw. Meme-Adaptionen in der Datenbasis enthalten waren.↩︎

  5. Wenn sich beispielsweise bei Nicht-Nennung des Klarnamens oder mangelnden Profilinformationen kein tatsächliches Geschlecht erkennen ließ, wurde dies entsprechend codiert.↩︎

  6. Als Expert_innen wurden solche Nutzende klassifiziert, auf deren Twitter-Profil ein klarer thematischer Fokus erkennbar war, ohne dass sie dabei einer übergeordneten Institution zuordenbar waren.↩︎

  7. Auf der Nutzerebene war der Zeitpunkt des Tweets ausschlaggebend für die Zuordnung. Daher können Nutzer_innen, die mehrfach getweetet haben, durchaus in mehreren Übernehmergruppen zu finden sein. Wir sind der Auffassung, dass Diffusion weniger von sog. Unique-Usern abhängig ist als vielmehr von einzelnen Übernahmezeitpunkten.↩︎

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  1. Türkçe ve Almanca İnternet Memlerinin Söz Edimleri Kuramı Bağlamında Analizi
    Özlem GENCER ÇITAK (2023)
    Diyalog Interkulturelle Zeitschrift Für Germanistik
    DOI: 10.37583/diyalog.1404198

  2. Strategische Politische Kommunikation im digitalen Wandel
    Natalie Rauscher (2018)
    Diyalog Interkulturelle Zeitschrift Für Germanistik
    DOI: 10.1007/978-3-658-20860-8_9

  3. Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung
    Georg Fischer et al. (2023)
    Diyalog Interkulturelle Zeitschrift Für Germanistik
    DOI: 10.1007/978-3-658-26556-4_118

  4. A cultura dos memes: aspectos sociológicos e dimensões políticas de um fenômeno do mundo digital
    Vicktor Chagas (2020)
    Diyalog Interkulturelle Zeitschrift Für Germanistik
    DOI: 10.7476/9786556301785.0002

  5. Remotivierung in der Sprache
    Ulrike Krieg-Holz (2023)
    Diyalog Interkulturelle Zeitschrift Für Germanistik
    DOI: 10.1007/978-3-662-65799-7_11

  6. Mit Humor ist nicht immer zu spaßen
    Anna Dargiewicz (2022)
    Diyalog Interkulturelle Zeitschrift Für Germanistik
    DOI: 10.14220/9783737014304.169

  7. »For the lulz, mein Fuehrer«
    Bekir Ismail Dogru (2021)
    Freie Assoziation
    DOI: 10.30820/1434-7849-2020-1-2-15

  8. Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung
    Georg Fischer et al. (2021)
    Freie Assoziation
    DOI: 10.1007/978-3-658-26593-9_118-1

  9. Internet-Memes als Zugang zu multimodalen Konstruktionen
    Lars Bülow et al. (2018)
    Zeitschrift für Angewandte Linguistik
    DOI: 10.1515/zfal-2018-0015

  10. Digitale Pragmatik
    Elke Diedrichsen (2023)
    Zeitschrift für Angewandte Linguistik
    DOI: 10.1007/978-3-662-65373-9_8

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