„Try not to cry“ – Memes, Männlichkeit und Emotionen

Zur Entstehung von Affektstrukturen in digitalen Bildpraktiken

  • Sascha Oswald Universität Hildesheim

DOI:

https://doi.org/10.15460/kommges.2018.19.2.596

Schlagworte:

Internet, Männlichkeit, Gefühl, Affektivität, Medienkultur, Körperlichkeit, Normsetzung, Normverletzung, Selbsterfahrung, Bildmaterial

Redaktion und Begutachtung

  • Georg Fischer Technische Universität Berlin
  • Lorenz Grünewald-Schukalla HIIG

Abstract

Auf dem Imageboard 9gag.com werden Sprachcodes und popkulturelle Referenzen als Stil­mittel eingesetzt, um ästhetische Wahrnehmungs- und Handlungsräume im Netz zu er­zeu­gen, in denen sich die Nutzenden als Kommunikations- und Sehgemeinschaft erfahren. Die Meme-Kommunikation stellt hier ein prägendes kommunikatives Muster dar. In der Untersuchung des Try not to cry-Memes zeigt der Artikel, wie im Rahmen kollektiver, par­ti­zi­patorischer Bild-Praktiken der Gefühlsausdruck des Weinens und die damit verbundenen Emo­tionen bei Männern erörtert und ausgehandelt werden. Eine besondere Rolle spielen dabei die metak­ommunikativen Funktionen bildspezifischer Eigenschaften und humorvoller Rahmungen, die es den Nutzenden ermöglichen, stigmatisierte Themen zu artikulieren. Der Artikel beschreibt, wie die Meme-Praxis auf 9gag das Reden über männliche Tränen ermöglicht und so einen digitalen Artikulationsraum für männliche Gefühle schafft.

1 Einleitung

Werden in den Medien Geschlechterbilder behandelt, so stehen bislang Wandel und status quo des weiblichen Geschlechterbildes im Fokus. Das mag nicht verwundern: Die spätestens seit dem 19. Jahrhundert zunehmende Thematisierung von Weiblichkeit ist aus einem Kampf gegen die Marginalisierung weiblicher Existenzen hervorgegangen (vgl. Beauvoir 2013) und hat sich historisch als Praxis der kollektiven Ermächtigung und emanzipatorischen Aneignung von geschlecht­licher Identität etabliert. Das Männliche hingegen wurde, zumindest seit der Moder­ne, als das Selbstverständliche und Allgemein-Menschliche (vgl. Simmel 1986) vorausgesetzt und somit einer weitergreifenden Thematisierung entzogen. Zwar rücken, insbesondere im Zuge der von den Gender Studies beförderten Männerforschung, auch das Thema Männlichkeit immer stärker in den Vordergrund, doch zumeist beschränkt sich das Interesse auf gegenwärtige oder historische Männerbilder oder die soziale Organisation von Männlichkeit(en) (vgl. Connell 1999).

Während die Phänomenologie und Psychologie der Weiblichkeit auf eine lange Geschichte zurückblickt (vgl. Riviere 1994; Young 1980; Duden 1987; Gahlings 2016) und die Frage nach Leiblichkeit auch in der Transsexualitätsforschung in den Vordergrund rückt (vgl. Lindemann 2011), werden männliche Affektstrukturen nur selten oder gar nicht thematisiert (vgl. Gugutzer 2016).1 Es herrscht weitgehend Funkstille, wenn es um die leiblich-affektive Erfahrung von Männlichkeit geht. So schreibt der Sport- und Körpersoziologe Robert Gugutzer, dass Männer zwar einen Körper bekommen hätten, “ihren Leib scheinen sie dagegen noch kaum entdeckt zu haben” (2014: 98, Hvhb. SO).2 Die Thematisierung dieses Teils männlicher Lebenswelt ist gesellschaftlich stigmatisiert und wird in der alltäglichen Praxis marginalisiert.3 Gugutzers Diktum, dass Männern die “Sprachfähigkeit hinsichtlich ihrer leiblichen Selbsterfahrungen” (2014: 98) fehle, lässt sich um die Beobachtung erweitern, dass ein solches Sprechen noch immer den Nimbus der ‘Unmännlichkeit’ trägt.4

Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der Beitrag mit der Frage, wie in der Netzkultur mit die­sen Restriktionen umgegangen wird und ob sich hier neue (digitale) Artikulationsräume männ­licher Leiblichkeit bilden. Dabei werde ich auf eine ganz spezifische und basale kör­per­liche Ausdrucksform leiblich-affektiver Regung fokussieren: das Weinen. Ich werde heraus­arbeiten, welche Affektstrukturen in der Thematisierung männlichen Weinens durch Memes auf dem Imageboard 9gag gebildet werden. Dabei werde ich zeigen, dass 9gag-Userinnen und -User5 als Kommunikations- und Sehgemeinschaft spezifische Formatvorlagen zur (bild-)sprachlichen Artikulation von Gefühlen nutzen und dadurch emotionale bzw. leibliche Erfahrungsstrukturen ordnen und verorten.

2 Weinen: ein blinder Fleck männlicher Affektkultur?

Weinen ist (wie auch das Lachen) eine Form des körperlichen Ausdrucks, die wir nur bei Menschen finden. Der Philosoph Helmuth Plessner (1970: 143ff.) sieht darin die körperliche Antwort auf den Verlust von Distanz zur Welt – wir weinen, wenn uns etwas zu nahe geht, wenn es uns sprichwörtlich ‘übermannt’. Beim Weinen handelt es sich aber nicht nur um eine rein physische Reaktion. Weinen ist eng verbunden mit Emotionen, die kulturell vermittelt und besetzt sind (wie sich in der Metapher des Übermannens schon andeutet). Es ist gebunden an konkrete Performanzen, Ausdrucksregeln und spezifische Artikulationsräume.

Weinen gilt zumindest in vielen westlichen Kulturen als unmännlich und somit unvereinbar mit einem maskulinen Selbstverständnis. Enklaven einer ‘neuen Männlichkeit’ gibt es zwar seit längerem – so lernt man bspw. in speziellen Männergruppen, wie man seinen Gefühlen freien (oder ‘männlichen’) Lauf lassen kann, ohne den Verlust der eigenen maskulinen Identität befürchten zu müssen (vgl. Meuser 2000). Doch sind diese Räume der Gefühlsartikulation auf wenige Teilnehmer beschränkt und in der Regel kaum sichtbar. Im World Wide Web finden sich hingegen seit geraumer Zeit Bildartefakte, die den weinenden Mann in großer Anzahl und für viele deutlich sichtbar thematisieren. In sogenannten Memes setzen Nutzende sich verstärkt und meist sehr unterschiedlich mit dem Phänomen männlicher Tränen auseinander.

Geht man mit Reckwitz weiter davon aus, dass Emotionen nur im Zusammenspiel “sozial intelligibler Emotionszeichen” und eines “subjektiven Erregungszustandes des Körpers” auftreten (2016: 106),6 dann ist zu erwarten, dass eine Analyse dieser Kommunikate nicht nur Aufschluss über Gefühlsdiskurse, sondern auch über Affektstrukturen gibt. Das heißt selbstverständlich nicht, dass das Schreiben und Reden über oder das Zeigen von Tränen mit dem Vorgang des Weinens zusammenfällt. Es hat jedoch Einfluss darauf, wie und wann sich Personen affizieren lassen und wie und wann sie Emotionen zum Ausdruck bringen (wollen). Die Thematisierung von Affekten sorgt dafür, dass diese “verstärkt oder abgeschwächt, diskriminiert oder erst ‘in die Welt gesetzt werden’” (ebd.: 109).

Affektstrukturen konstituieren sich über soziale Praktiken und können sich in räumlicher und institutioneller Verdichtung zu Affektkulturen ausbilden. Wie und welche Affektstrukturen sich in der memetischen Thematisierung männlichen Weinens bilden, ist die Frage dieses Beitrags. Hierzu werde ich die Entstehung und Durchsetzung von Bedeutungen im Kontext spezifischer Bild-Text-Kommunikate betrachten. Nicht die Einzelbildbetrachtung, sondern die Analyse von Bildern und Bedeutungen in ihrem Entstehungs-, Gebrauchs- und Wirkungszusammenhang sollen so zum Verständnis gegenwärtiger digitaler Meme-Kommunikation beitragen und ihre affektstrukturierenden Effekte hervortreten lassen. Der Beitrag wird sich anhand konkreter Beispiele damit auseinandersetzen, wie 1) das Bild des weinenden Mannes durch Memes geformt wird, 2) welche Affektstrukturen dabei gezeitigt werden und 3) ob hierbei ein neuartiger Raum der Gefühlsartikulation entsteht.

3 Theoretische Konzepte

3.1 Memes

Sogenannte Image-Macros stellen die wahrscheinlich bekannteste und beliebteste Form von Memes dar. Sie bestehen zumeist aus einem standardisierten Bild und zwei variierenden Textzeilen am oberen und unteren Rand des Bildes, die miteinander kontrastieren. Image-Macros sind die meistverbreitete Meme-Variante, aber nicht die einzige. Memes können sich in den unterschiedlichsten Formen manifestieren – mit jeweils spezifischen Anwendungsregeln und Bedeutungen. Wie aber lässt sich unter diesen Voraussetzungen bestimmen, welche Inhalte zur Kommunikationsform der Memes zählen? Shifman (2014) und Breitenbach (2015) verstehen unter Memes Internet-Phänomene, genauer gesagt nutzergenerierte Inhalte verschiedenster Art (Bilder, Videos, Texte), die sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen. Eine Meme-Analyse, die lediglich von Bild-Eigenschaften ausgeht, verfehlt aber den Kern der Sache. Kriterien wie bspw. emotionale Aufladung, Humor oder Einfachheit sind weder notwendig noch hinreichend, um Memes zu definieren. Diese Eigenschaften können nur Aufschluss über das Meme-Potential geben, also über die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Inhalt memetisch wird.

Kleinster gemeinsamer Nenner von Memes sind nicht immanente oder askriptive Eigenschaften. Ihre Gemeinsamkeit liegt in einer spezifischen Form sozialer Bild-Praxis, genauer: in der viralen Verbreitung sowie der Modifikation von Inhalten. Doch weder Viralität7 noch Modifikation allein sind ausreichend. Es ist vielmehr die konkrete Verknüpfung von Viralität und Modifikation – und damit die kollektive, partizipatorische Bild-Praxis – die darüber entscheidet, ob etwas zum Meme wird oder nicht. Sprich: Ein Inhalt ist dann memetisch zu nennen, wenn er von vielen modifiziert und verbreitet wird. Aus diesen Beobachtungen lässt sich schließlich folgende schlanke Arbeitsdefinition ableiten: Unter Internet-Memes sollen kulturelle Einheiten jeder Form oder Medialität verstanden werden – von Bildern über Videos bis hin zu Liedern, Textzeilen, einzelnen Wörtern oder abstrakten Konzepten – die von einer kritischen Masse8 an Nutzenden in einem oder mehreren digitalen Räumen verbreitet und dabei bewusst in Form oder Inhalt variiert werden.

3.2 Sehflächen sehen lassen

In der folgenden Analyse werde ich mich auf Memes in Form von Bildern oder Bild-Text-Kompositionen beschränken. Da Memes selten nur als Bilder mit rein ikonischem Gehalt vorkommen, sondern in der Regel Text beinhalten, werden sie hier als Sehflächen behandelt. Schmitz bezeichnet Sehflächen als “Flächen, auf denen Texte und Bilder in geplantem Layout gemeinsame Bedeutungseinheiten bilden” (2011: 25). Es handelt sich um multimodale Verbindungen, “in denen Schrift und Bild durch ein beide Seiten verbindendes Design formal und inhaltlich untrennbar ineinander spielen” (ebd.: 26). Auch bei den Memes in diesem Beitrag sind Bild- und Textelemente miteinander verwoben und in einem bestimmten, nicht zufälligen Verhältnis zueinander arrangiert worden. Bild-Produzierende verfügen dabei über bewusste oder unbewusste Kompetenzen und arrangieren Sehflächen mit Blick auf die jeweiligen kommunikativen Potentiale der unterschiedlichen semiotischen Systeme. Hartmut Stöckl spricht von einer Arbeitsteilung zwischen Sprache und Bild, wobei “die Stärken des einen semiotischen Systems die Schwächen des anderen aus[gleichen] und umgekehrt” (Stöckl 2011: 48). Während Bedeutung bspw. in Sprache “fest verankert” sei, wären Bilder notorisch “vage und unterdeterminiert” (ebd.):

“Bilder bieten dem Rezipienten vielmehr ein Bedeutungspotenzial, das durch einen entsprechenden Kontext aktiviert und erschlossen werden muss. Solche Kontexte können (sprachliche) Begleittexte, Genre-/Stil- und enzyklopädisches Wissen sowie Erfahrung mit dem dargestellten Weltausschnitt und assoziierbaren Sachverhalten sein” (ebd.: 49).

Für die Meme-Analyse bedeutet dies, dass Memes a) auf ihre immanente Verknüpfungsstruktur bzw. Grammatik hin untersucht werden müssen, also darauf, in welchem Verhältnis Bild und Text sowie die einzelnen multimodalen Sehflächenelemente zueinanderstehen. Von besonderem Interesse ist b) auch der Stil: Die Bedeutung eines Memes hängt nicht nur davon ab, was gezeigt wird, sondern mindestens ebenso sehr davon, wie es gezeigt wird. Es muss nach Möglichkeit aber auch immer c) dem kommunikativen Kontext Rechnung getragen werden, um die pragmatische Bedeutung einzuholen, die im jeweiligen Meme-Gebrauch entsteht. Hier stellen sich Fragen wie: Wo wird das Meme gepostet? An wen richtet es sich? Wie wird in Kommentaren darauf Bezug genommen? Wie wird es verbreitet und verändert?

Das Posten eines Memes ist immer auch ein Zeigen eines Memes und jedes Zeigen ist eine (Bild- bzw. Sehflächen-)Handlung.9 Zeigen ist “ein Sehen-Lassen von etwas Intendiertem” (ebd.: 48) und umgekehrt müssen alle Betrachtenden, möchten sie Sinn aus einem Bild oder Meme gewinnen, eine Zeige-Handlung und eine damit verbundene Intention unterstellen. Dies wiederum bedeutet immer auch Selektion: Zeigen ist nicht identisch mit dem, was auf einer Sehfläche alles gesehen werden kann, sondern fokussiert bestimmte Elemente und vernachlässigt andere (ebd.: 47f.).

Wer ein Meme zeigt, will also etwas sehen lassen und will dies auf eine ganz bestimmte Art und Weise tun. Wiesing beschreibt dies wie folgt: “Wenn sich bestimmte Arten des Abbildens und der Bildproduktion durchsetzen, dann liegt das daran, dass Bilder dieser Art besonders erfolgreich bestimmte Zwecke erfüllen” (ebd.: 159). Memes sind kommunikative Werkzeuge und erst vor diesem Hintergrund lassen sich ihre Bedeutungen verstehen. Für Memes in all ihren Varianten ist anzunehmen, dass die entsprechenden Bilder bzw. Sehflächen eine bestimmte kommunikative Funktion übernehmen und womöglich sogar besser als andere Formen der Abbildung, Darstellung oder Wiedergabe dazu taugen, eine bestimmte Sache, eine Erfahrung oder eine Vorstellung zu zeigen. Wie gut sich ein Bild zum Zeigen von etwas eignet, hängt nach Wiesing davon ab, was man von einer “Darstellung verlangt” (ebd.: 170). Was also wird von Memes, die weinende Männer zeigen, verlangt? Welche Wahrnehmungen oder Betrachtungen ersetzen diese Memes, welche Funktion erfüllen sie und welche Affektstrukturen installieren sie, wenn mit ihnen gezeigt wird?

3.3 Bildpraktiken-Analyse

Ich werde zur Beschreibung und Analyse der Memes den Begriff der Bildpraktiken verwenden. Der Begriff bezeichnet “die eingespielten, vollzugsförmigen, in actu nicht reflektierten Muster bildlichen Produzierens, Ausdrückens, Wahrnehmens, Verstehens und Handelns” (Reißmann 2015: 61). Konkret werde ich spezifische Praktiken der Meme-Kommunikation und der Meme-Kommentierung auf der Seite 9gag.com untersuchen. Methodisch werde ich dabei eine sprachpragmatische und kontextbezogene Analyse der Bildproduktion, -rezeption und der Bildverwendung vornehmen (vgl. Meier et al. 2014).

Ich werde dazu, nach einer kurzen Darstellung der Plattformstruktur, in einem ersten Schritt mehrere Derivate eines Memes anhand diskursanalytischer und semiolinguistischer Ansätze vergleichen, um so Muster der Perspektivierung männlichen Weinens herauszuarbeiten. Dabei orientiere ich mich an Meiers bilddiskursanalytischem Konzept (2008; 2010), Stöckls Hermeneutik von Sprache-Bild-Texten (2011) und Schmitz’ Sehflächenforschung (2011). Alle Autoren verstehen ihre Konzepte eher als analytisches Instrumentarium (vgl. Stöckl 2011: 67) zur Entschlüsselung multimodaler Kommunikation denn als abgeschlossene Verfahren. Es geht primär darum, “die komplexe Interrelation zwischen Sprache und Bild und deren kommunikative Effekte” (ebd.) sowie die “musterhafte Kommunikation zu einem gesellschaftlichen Thema” (Meier 2014: 230) zu eruieren.

Im zweiten Schritt werde ich zusätzlich kurze Sequenzen aus Kommentarbereichen betrachten, in denen die Nutzenden schriftlich und mit Bildern aufeinander Bezug nehmen. Die Ansätze der Bildakt-Theorie (Schmitz 2007) und der Positionierungsanalyse (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004) erwiesen sich hier als fruchtbar, da sie es erlauben, sowohl die pragmatische Funktion von Aussagen in dialogischen Situationen zu eruieren, als auch den darin zum Ausdruck kommenden Selbst- und Fremdbezug. Die Verfahren geben also Aufschluss darüber, welche kommunikativen und subjektivierenden Funktionen Memes, die weinende Männer zeigen, in den jeweiligen Kontexten erfüllen.10

4 Empirische Analyse: Anleitungen zum Weinen

4.1 Feld: Der Kommunikationsraum 9gag

Die Seite 9gag.com zählt zu den derzeit beliebtesten Imageboards. Sie setzt sich von alternativen Imageboards durch ein vergleichsweise einfaches und intuitives Interface ab. Hinzu kommt, dass die Nutzenden über Pseudonyme miteinander kommunizieren und nicht etwa, wie z. B. auf 4chan.com, anonymisiert werden. Dies erleichtert die Untersuchung von bisweilen unübersichtlichen kommunikativen Praktiken.

Um die Inhalte der Seite zu betrachten, ist keine Registrierung notwendig. Wer jedoch selbst Bilder hochladen möchte, muss einen persönlichen Account erstellen. Man kann anschließend eigene Bilder hochladen oder einen sogenannten Meme-Generator verwenden, der das Rohmaterial der gängigsten Memes schon bereitstellt. Ist das Bild hochgeladen, nimmt es auf der sogenannten Fresh-Page an einem Voting-Verfahren teil. Von dort aus kann es, bei genügend Upvotes, über die Trending-Page bis zur Hot-Page (sprich auf die Hauptseite) aufsteigen. Die Bilder werden in jeder Sektion von oben nach unten und von neu nach alt dargestellt. Klickt man auf ein Bild oder dessen Überschrift, öffnet sich eine separate Seite, auf der das Bild in seiner vollen Auflösung angezeigt wird. Diese Unterseite enthält zudem einen Kommentarbereich. Die Darstellungen in Abb. 1-3 veranschaulichen die Struktur von Beitrags-Feed, Bild-Beiträgen und Kommentaren auf 9gag.

Abbildung 1: Aufbau des Feeds (Hauptseite 9gag.com). Quelle: http://www.9gag.com; Ergänzungen nach eig. Darstellung.
Abbildung 2: Beitragsdarstellung Feed (Hauptseite 9gag.com). Quelle: http://9gag.com/gag/aDWz0q7; eigene Darstellung.
Abbildung 3: Aufbau des Kommentarbereichs (9gag.com). Quelle: http://9gag.com/gag/aDWz0q7; eigene Darstellung.

4.2 Fallanalysen

Abbildung 4: Where real men cried. Quelle: http://9gag.com/gag/aDWz0q7.
Abbildung 5: Not the only one. Quelle: https://9gag.com/gag/aDG9v97
Abbildung 6: Cry a lot T.T. Quelle: https://9gag.com/gag/aQnogB2/lie-down-try-not-to-cry-cry-a-lot-t-t
Abbildung 7: Ezio’s Story. Quelle: https://9gag.com/gag/ao1g6em/so-i-decided-to-replay-ezio-s-story-again-and-this-part-still-hits-my-damn-feels.

Wir sehen oben vier unterschiedliche Ausgangsbeiträge, die zu unterschiedlichen Zeiten hochgeladen wurden. Alle vier Beiträge bestehen aus einer Überschrift und einem zweigeteilten Bildkörper: Überschrift und die obere Hälfte des Bildkörpers variieren von Beitrag zu Beitrag, die untere Hälfte des Bildkörpers ist jeweils identisch.11 Dass bis auf eine Abweichung im letzten Beitrag das untere Segment in allen Beiträgen identisch ist, lässt auf einen besonderen Stellenwert im Beitragskontext schließen. Die Variationen finden allesamt im oberen Beitragsbereich und in der Überschrift statt. Das invariante untere Beitragssegment wird im Folgenden als Quellbereich bezeichnet. Es handelt sich um die Interpretationsfolie, von der aus der Rest des Beitrags seine Rahmung erhält. Er wird daher zuerst und gesondert betrachtet. Das variante obere Segment stellt den Zielbereich dar.

4.3 Quellbereich: Die Gebrauchsanweisung

Wir sehen in den Quellbereichen drei Panel, auf denen in schematischer Zeichnung ein Mann in T-Shirt und Shorts abgebildet ist. Jedes der Panel ist zudem mit einer Kurzinstruktion beschriftet. Im ersten Panel sehen wir den Mann in der Fötusstellung auf dem Boden liegen. Neben ihm liegt ein länglicher Gegenstand, der nicht eindeutig identifizierbar ist. Um das Gesicht des Mannes herum hat sich eine kleine Pfütze gebildet. Der Text spricht die Betrachtenden direkt, auf Englisch und im Imperativ an. Man wird angewiesen, sich hinzulegen (“lie down”). Im zweiten Panel hat sich der Mann um 180° zur Seite gewandt, noch immer in Fötalhaltung. Der Text fordert zum Versuch auf, nicht zu weinen (“Try not to cry”). Pfütze und Gegenstand sind verschwunden. Im letzten Panel sehen wir das seitwärtsgewandte Gesicht des Mannes in Großaufnahme. Er hat die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet und liegt mit dem Gesicht erneut in einer Pfütze. Aus dem sichtbaren Auge fließt über Wange und Nase eine Träne herab. Der Text instruiert die Betrachtenden, viel zu weinen (“cry a lot”).

Abbildung 8: Trimm-Dich-Pfad-Stationsschild. Quelle: https://www.fitnesspfad.de/images/product\_images/popup\_images/427\_0.JPG.
Abbildung 9: Trainingsanleitung Sportgerät. Quelle: http://koelbel.de/sites/default/files/images/Trainingsanleitung-Beispiel-600.jpg.
Abbildung 10: Montageanleitung IKEA. Quelle: http://www.ikea.com/ms/de_DE/img/rooms_ideas/Assembly_instructions_12/BILLY_BUEREG_202.pdf?icid=de|itl|fy14_service|textlink|kw3|322.
Abbildung 11: Gebrauchsanl. “Try not to cry”. Quelle: http://i1.kym-cdn.com/entries/icons/original/000/012/073/7686178464\_fdc8ea66c7.jpg.

Was aber kann auf dem Bild abseits der einzelnen Elemente noch gesehen werden? Ein “beobachtend[er], wiedererkennend[er], differenzierend[er] und […] interpretierend[er]” Bildvergleich (Müller 2012: 133) kann hier Aufschluss geben. Sucht man nach ähnlichen Bildern, so wird man auf Trimm-Dich-Pfaden, in Fitness-Studios oder im Baumarkt fündig:

Die schematische, einfache Darstellung; Pfeile, die Bewegungsrichtung- und Intensität anzeigen; die Darstellung von Handlungsschritten bzw. Bewegungsabfolgen in aufeinanderfolgenden Einzelbildern; kurze imperative Textbausteine und auch die Skalierung (das Heranzoomen) wichtiger Details: All das sind Elemente, die im Zusammenspiel charakteristisch sind für Anleitungen, Gebrauchsanweisungen und Instruktionen. Die Abbildung von Körpern in einem solchen Kontext ist wiederum charakteristisch für Sport- und Bewegungsinstruktionen. Eine kurze Recherche ergibt, dass die hier untersuchte Sehfläche ursprünglich Teil einer umfassenderen Sehfläche war, die zu einer Bildserie der Seite collegehumor.com gehört, welche Fitness- und Trainingsanleitungen parodiert (vgl. Abb. 12 und 13).

Abbildung 12: Writhing-In-Pain-Cries. Quelle: http://www.collegehumor.com/post/6283767/realistic-gym-workout-diagrams
Abbildung 13: Isolated iPod Thumb Circles. Quelle: http://www.collegehumor.com/post/6283767/realistic-gym-workout-diagrams

Die Ambiguität einiger Bild-Elemente löst sich im ursprünglichen Kontext auf. Der längliche Gegenstand wird nun als Langhantel und die Kleidung als Sportkleidung identifizierbar. Ebenso legt der erweiterte Bildkontext einen Grund für die Tränen des Mannes nahe, der von der Überschrift (“Writhing-in-pain cries”) sogar noch expliziert wird: Der Mann weint aufgrund körperlicher Schmerzen – er hat sich ‘übernommen’. In den gekürzten Versionen entfällt der explizite Kontext ‘Sport/Fitness’ sowie die Explikation der Tränen. Wir sehen nur noch einen Mann, undefinierte Tränen und deren schematische Darstellung in Form einer Gebrauchsanleitung. Die Nutzenden haben sich die Sehfläche angeeignet: Eine Parodie auf Trainingsanleitungen wurde um einen konkreten Verweisungszusammenhang beschnitten und zur allgemeinen Schablone und Formatvorlage modifiziert: zur ‘Gebrauchsanleitung zum Weinen’ für Männer.

Wer solch eine Gebrauchsanweisung formuliert, impliziert damit, dass der Vorgang des Weinens Kompetenzen voraussetzt, über die nicht jeder verfügt, sei es beim Hervorbringen von Tränen (wie weine ich?) oder dem Umgang damit (wie und wann darf/soll ich weinen?). Die Gebrauchsanweisung soll nun durch klare (bildliche oder textliche) Instruktionen, die “so wenig offen wie möglich für Interpretation” (Figueroa-Dreher/Dreher 2014: 462) sind, zum kompetenten Umgang mit Tränen verhelfen.

Die Gebrauchsanweisung der Memes knüpft an alltagsweltliches Stereotypen-Wissen an: Männer sind emotional blockierte Rationalisten, die es verlernt oder gar nicht erst gelernt haben, Gefühle auszudrücken. Die Gebrauchsanweisung suggeriert, diesem Mangel abzuhelfen. Doch was wird hier tatsächlich gemacht – wird aufgefordert, illustriert, beschrieben? Der Text “Lie Down” bspw. wendet sich ganz klar direkt und direktiv an die Betrachtenden. Und das Bild? Bilder sind zwar nicht grammatikalisch verfasst, d. h. sie kennen keine Konjugationsparameter und damit auch keine expliziten Aussagemodi. Dennoch kann man auch mit Bildern etwas tun – weniger eindeutig, aber nicht unbedingt weniger effektiv (vgl. Schmitz 2007). Im Kontext der kommunikativen Gattung ‘Gebrauchsanweisung’ sind sowohl der visuelle Indikativ als auch der Imperativ gebräuchlich. Im Falle der Memes nehmen die Bilder vor allem durch die Assoziation mit dem Text einen imperativen Charakter an. Die visuellen Elemente entwickeln aber zusätzlich eine eigene illokutionäre Kraft, sprich: Auch durch sie wird aufgefordert, also gehandelt12, sie illustrieren nicht einfach nur. Der Text formuliert das Was, die Bilder formulieren bzw. zeigen das Wie. Jede Gebrauchsanweisung nimmt zudem normative Setzungen vor. Sie zeigt nicht nur konjunktivisch an, wie man etwas machen kann: Sie gibt vor, was man wie machen sollte. Der disziplinierte, seine Affekte regulierende Mann wird hier z. B. angewiesen, den unwillkürlichen Regungen des Körpers nachzugeben und sich einfach ‘übermannen’ zu lassen.

Es darf zu guter Letzt nicht unterschlagen werden, dass mit der Sehfläche vor allem auch etwas ‘Lustiges’ gezeigt werden soll: Die hyperbolischen Elemente – die Pfütze als Symbol eines völlig unregulierten Überschusses an aufgestauten Gefühlen, der völlige Regress in die Infantilität durch Einnahme der Fötushaltung – verleihen dem Meme eine eigene Komik.

4.4 Zielbereich: Legitime Anlässe des Weinens

Die Gebrauchsanweisung wird in den Fallbeispielen mit anderen Elementen zu einer erweiterten Sehfläche verknüpft. Diese Elemente generieren nicht unabhängig voneinander Bedeutung. Während der invariante Quellbereich der Gebrauchsanweisung Aufschluss darüber gibt, wie man(n) weint, spezifiziert der von den Nutzenden zu variierende Zielbereich, wann bzw. zu welchem Anlass man(n) weint (vgl. Abb. 13).13

Im ersten Beispiel (Abb. 3) wird eine Szene aus dem Videospiel Metal Gear Solid V gezeigt. Bei der Figur im Vordergrund handelt es sich um die vom Spieler gesteuerte Hauptfigur, bei den Figuren im Hintergrund um Mannschaftsmitglieder seiner militärischen Einheit. Diese haben sich mit einem tödlichen Virus infiziert und erwarten von ihrem Anführer nun den Gnadenschuss. Das Bild ist übertitelt mit “Where real men cried”. Die zeigende Person setzt die Gebrauchsanweisung sowohl in einer indikativen als auch in einer direktiven Form ein. Es wird einerseits festgestellt, dass mit Bezug auf die Szene im Zielbereich geweint wurde. Die Gebrauchsanweisung deutet die abgebildete Szene im Zielbereich als ein Ereignis, das traurig ist, zu Tränen rührt oder ‘nahe geht’. Die Szene ruft männlich codierte Motive wie Kriegspathos, Kameradschaft und Loyalität auf. Diese Motive elaborieren und spezifizieren, worüber geweint werden darf oder soll, sind also direktiv zu lesen. Sie geben einen legitimen Anlass für Tränen vor und werden durch die Gebrauchsanweisung ratifiziert. Die Überschrift kontextualisiert, erweitert und verankert schließlich diesen Bedeutungsrahmen. Nicht nur ist die Spielszene ein Anlass zum Weinen; sie ist dies, so die Behauptung, für richtige Männer, sprich: Richtige Männer sollten in dieser Situation weinen. Weinen wird hier als Bestätigung und nicht als Infragestellung des männlichen Status gerahmt.

Abbildung 14: Sehflächen-Struktur eines Memes. Quelle: http://9gag.com/gag/aDWz0q7; Ergänzungen nach eig. Darst.

Beim zweiten Beispiel (Abb. 4) handelt es sich um eine Szene aus dem Film The Green Mile (1999), in welcher der Gefangene John Coffey von zwei Wärtern zu seiner Exekution abgeführt wird. Obwohl Coffey unschuldig ist, wird die Todesstrafe vollzogen. Das Bild ist übertitelt mit: “Please tell me I’m not the only one”. Die zentrale Figur im Bild ist John Coffey. Die Gebrauchsanweisung definiert The Green Mile vor dem Hintergrund des Schicksals dieser Figur: Sie weist ihn aus als einen traurigen, zu Tränen rührenden Film. Mit der Überschrift bittet der Beitrags-Zeigende schließlich um die Versicherung, dass er nicht der einzige ist – doch der einzige wovon? Der einzige, der den Film gesehen hat? Hier zeigt sich erneut, dass keines der Sehflächen-Elemente unabhängig von den Anderen Sinn ergibt. Die Überschrift, die entscheidenden Einfluss auf die Kontextualisierung und semantische Verankerung des Beitrags hat, wird erst verständlich vor dem Hintergrund der Gebrauchsanweisung. Der Beitrags-Zeigende möchte wissen, ob er der einzige ist, der aufgrund des Films geweint hat und bittet die Betrachtenden, ihm zu versichern, dass dies nicht der Fall ist. Er artikuliert mit dem Meme also Sorge und Unsicherheit über seine emotionale Reaktion auf den Film und evoziert wie auch antizipiert zugleich Bestätigung aus der Community.

Im dritten Beispiel (Abb. 5) sehen wir drei Film-Stills. Es handelt sich dabei um eine Szene aus dem Film Hachiko, in welcher die Witwe eines verstorbenen Mannes feststellt, dass dessen Hund seit Jahren vergeblich am Bahnhof auf ihn wartet. Das Bild ist übertitelt mit: “Lie down. Try not to cry. Cry a lot T.T”. Hier werden der Film, aber insbesondere die unbedingte und über den Tod hinausreichende Zuneigung und Loyalität des Hundes als tränenwürdig ausgezeichnet. In der Überschrift werden die Textbestandteile der Gebrauchsanweisung wiederholt und ergänzt durch ein Emoticon, das ein weinendes Gesicht darstellt und damit wiederum die Tränenlache im letzten Bild der Gebrauchsanweisung ikonisch dupliziert.14 In der Wiederholung der Imperative inszeniert der Beitrags-Zeigende so die Einhaltung der einzelnen Schritte und betont die Unvermeidlichkeit des ‘Gefühlsausbruchs’ zusätzlich mit ikonischen Zeichen. Auch hier wird die Gebrauchsanweisung sowohl indikativ als auch imperativ eingesetzt.

Im vierten Beispiel (Abb. 6) sind Stills einer Szene aus dem Spiel Assassin’s Creed II (2009) zu sehen, in der gezeigt wird, wie der Vater und die Brüder der Hauptfigur Ezio hingerichtet werden, während dieser dabei zusieht. Dieses Meme ist insofern interessant, als es die Gebrauchsanleitung variiert. Das Aussehen des weinenden Manns wurde der Hauptfigur des Videospiels angepasst: Statt des Mannes in T-Shirt und Shorts sehen wir nun den Assassinen Ezio auf dem Boden liegen und weinen. Einerseits distanziert die Variation die Betrachtenden vom reklamierten emotionalen Gehalt der Szene: Die bereits im Meme angelegte komische Überspitzung wird potenziert, indem sie auf die Figur des kaltblütigen Assassinen Ezio übertragen wird. Andererseits nimmt die zeigende Person dadurch auch eine Identifikation mit der Spielfigur vor: Sie ist nicht nur traurig in Anbetracht der Szene, sondern weint als Ezio über das Geschehen. In der Überschrift verwendet sie auch nicht den Titel des Spiels, sondern schreibt dezidiert von “Ezio’s Story” und stellt so einen starken persönlichen Bezug her. Der Zeigende geht anschließend noch einen Schritt weiter: Mit der Formulierung “immer noch” proklamiert er eine hohe emotionale Intensität und weist sie als bleibende, substantielle Erfahrung aus. Er vollzieht mit dem Meme also den expressiven Sprech- bzw. Bildakt: ‘Die gezeigte Szene aus dem Spiel Assassin’s Creed hat mich persönlich tief zu Tränen gerührt’.

4.5 Kommentare & Upvotes

Der Semiose-Prozess endet aber nicht nach dem Hochladen und Zeigen eines Memes. Jedes Bild durchläuft ein ‘peer-review’-Verfahren auf mehreren Unterseiten und nur die Beiträge mit den meisten Upvotes erlangen den Status eines Hot-Page-Beitrags auf der Hauptseite. Beiträge mit geringen Upvotes fallen beim ‘peer-reviewing durch und bleiben gewissermaßen in den Unterseiten ’stecken’. So findet eine Vorentscheidung darüber statt, was tatsächlich sicht- und sagbar wird. Diejenigen, deren Beitrag nicht genügend Upvotes erhält, bleiben vom Diskurs ausgeschlossen. Neben den Upvotes als evaluativer Form des Feedbacks besteht zusätzlich die Möglichkeit des diskursiven oder ikonischen Anschlusses in Form eines oder mehrerer Kommentare. Die Upvotes alleine geben keinen Aufschluss darüber, warum ein Beitrag positiv bewertet wurde bzw. wie ein Beitrag rezipiert und angeeignet wurde. In den Kommentaren hingegen lässt sich nicht nur verfolgen, wie ein Beitrag von einzelnen Nutzenden gedeutet wird, sondern auch, wie Deutungen untereinander verhandelt werden. Wie der Semiose-Prozess in den Kommentarbereichen fortgeführt wird, soll an zwei kurzen Beispielen dargestellt werden. Möglich sind zum einen diskursive Anschlüsse wie in Abb. 14 dargestellt.

Abbildung 15: Ausschnitt des Kommentarbereichs zu Abb. 4. Quelle: http://9gag.com/gag/aDWz0q7.

Im dargestellten Austausch beklagt sich der User mcmuphin angesichts der Zunahme von Try not to cry-Memes im Kontext von Videospielen über die scheinbare Sensibilität von Gamern. Daraufhin meldet sich es_tel, der Poster des Ausgangsbeitrags (erkennbar am grünen OP für ‘original poster’), zu Wort und konfrontiert mcmuphin mit der Frage, ob er in der referierten Szene tatsächlich ohne Skrupel die Teammitglieder der Hauptfigur töten konnte bzw. könnte. Der User nice_man sekundiert ihm, indem er mcmuphin eine Doppelmoral unterstellt und ihm vorwirft, Videospiele, im Gegensatz zu Filmen, Serien und Büchern, nicht als legitime Quellen des Weinens anzuerkennen. Er bekräftigt, dass er es für akzeptabel und nachvollziehbar hält, wenn Videospiele solche starken emotionalen Reaktionen hervorrufen. Mit ihren Beiträgen tauschen sich die Kommentatoren über Fragen darüber aus, welche Gültigkeit der Ausgangs-Beitrag beanspruchen darf und wann es legitim ist zu weinen. Sie nehmen also den Impuls des Memes auf und erörtern ihn im diskursiven Austausch anhand expliziter Selbst- und Fremdbezüge.

Neben diskursiven existieren auch ikonische Anschlüsse. Der Kommentar in Abb. 15, der sich auf den zweiten Beitrag (Green Mile) bezieht, schließt entsprechend in ganz anderer Weise an den Ausgangsbeitrag an. Der Kommentar von robsonmm enthält keinerlei eigenen Text. Stattdessen antwortet der User mit einem sogenannten Reaction-Image. Bei Reaction-Images handelt es sich um ein großes Set an animierten oder nicht-animierten Bildern, die von der Plattform 9gag alternativ zu Emojis angeboten werden (vgl. Abb. 17) .

Abbildung 16: Ausschnitt des Kommentarbereichs zu Abb. 5. Quelle: https://9gag.com/gag/aDG9v97.
Abbildung 17: Ausschnitt des Reaction-Image-Sets auf 9gag. Quelle: https://memeful.com/.

robsonmm postet das Bild eines mit groben schwarzen Linien gezeichneten Gesichts. Der Blick der Figur ist leer bis resignativ. Auf dem Kopf trägt sie einen Helm mit der Aufschrift “Born to feel” und im Zugband des Helms steckt eine Herz-Ass-Karte. Es handelt sich hier um ein Derivat des Feels-Guy-Memes (Abb. 18), das “oft eingesetzt wird, um Gefühle wie Melancholie, Bedauern oder Einsamkeit auszudrücken”15. Der Helm, den der Feels-Guy trägt, ist wiederum eine Anspielung auf den mittlerweile ikonischen Helm aus Stanley Kubricks Film Full Metal Jacket (1987) (Abb. 19).

Abbildung 18: Feels Guy. Quelle: http://i0.kym-cdn.com/entries/icons/original/000/018/433/eaZrosc.png.
Abbildung 19: Ikonische Darstellung des Helms aus FMJ. Quelle: http://www.imgbase.info/images/safe-wallpapers/tv_movies/born_to_kill/38814_born_to_kill.jpg.

Der Militärhelm evoziert ein kriegerisch-archaisches Männlichkeitsbild und assoziiert den ‘Fühlenden’ mit einem Soldaten. Die spezifische Verknüpfung mit dem Feels-Guy-Meme bricht dieses Bild einerseits auf, indem sie es mit Innerlichkeit und Emotionalität kontrastiert. Gleichzeitig wird der Stereotyp aber auch zum Vehikel der Gefühlsartikulation. Stärke, Potenz und Kriegermännlichkeit bilden den – wenngleich karikierten – Rahmen, der es ermöglicht, die eigene Emotionalität zu externalisieren und ihr Form zu geben: Wer ‘fühlt’, ist stark, mehr noch: ein Soldat. Hierin drückt sich ein Zwiespalt aus, den auch die Gebrauchsanweisung in Anschlag bringt: Stereotype der Männlichkeit sollen zwar überwunden, können aber nicht einfach ignoriert werden. Sowohl die Gebrauchsanweisung wie auch der Feels-Guy verweisen auf innere Zerrissenheit und den Kampf mit sich selbst. Insbesondere der Kontrast zwischen dem leeren Gesichtsausdruck und der offensiven und existentiellen Anrufung des Helms insinuiert, dass dieser Kampf nicht offen stattfindet, sondern im Innern und verborgen hinter einer ‘Maske der Männlichkeit’.

Die Bezeichnung Reaction-Image verweist bereits darauf, dass mit Bildern wie dem obigen ‘Reaktionen’ ausgedrückt werden sollen. Als ikonische (Peirce 1993) bzw. wahrnehmungsnahe (Sachs-Hombach 2006) Zeichen sind sie dadurch ausgezeichnet, dass sie eine gewisse Unmittelbarkeit der Wahrnehmung und somit ästhetische Evidenz herstellen. Hinzu kommt, dass es sich bei den Reaction-Images in den meisten Fällen um (fiktive wie reale) Gesichter handelt. Der Grund dafür dürfte in der – bereits von Darwin (2000) untersuchten – besonderen Verbindung von Gesicht bzw. Mimik und Emotionen zu suchen sein, die auch Georg Simmel (1901) betont, wenn er schreibt, dass in der Form des Gesichts “die Seele sich am deutlichsten ausdrückt” (ebd.). Über mimische Gesten vollziehen sich im Gesicht – prägnanter als an allen anderen Körpergliedern – “körperlich-symbolische Her- und Darstellungen von Intentionen und Emotionen” (Wulf 2011: 7). Die Verwendung von ‘überzeichneten’ Gesichtern in den Reaction-Images scheint also darauf zu zielen, die qualitative Beschaffenheit emotionaler Reaktionen möglichst anschaulich vor Augen zu führen. Anders als im ersten Kommentar-Beispiel wird das Thema ‘Weinen’ mit dem Reaction-Image nicht argumentativ-diskursiv verhandelt, sondern emotiv-ikonisch. Im Modus der ikonischen Gefühlskommunikation wird so ästhetische Gefühls-Evidenz geschaffen.

5 Diskussion: Meme-Praxis, Gemeinschaftsstrukturen und Emotionen

5.1 Zusammenfassung der Befunde

Was lässt sich nun, nach der eingehenderen Betrachtung der Quell-, Ziel- und Kommentarbereiche mehrerer Try Not To Cry-Memes, über die bild-diskursive Rahmung männlichen Weinens und die damit einhergehenden memetischen Affektstrukturierungen aussagen?

Der Quellbereich ist in mehreren Aspekten ambig: Die Gebrauchsanweisung referiert und ratifiziert Männlichkeitsnormen und überschreitet sie zugleich. Ebenso relativiert die humorvolle Rahmung die Ernsthaftigkeit der Beiträge zwar, hebt sie aber nicht auf. Weiterhin werden mit der Gebrauchsanweisung sowohl direktive wie auch indikative und expressive Bildakte vollzogen. Dadurch wird eine interessante Perspektivierung männlicher Tränen vorgenommen: Männliches Weinen wird nicht als natürliches und passives Geschehen gerahmt, sondern als aktiver Akt der Übung und der Überwindung. Der Mann will, aber kann seinen Gefühlen nicht einfach ‘freien Lauf’ lassen, er muss es erst lernen. In den Memes wird mit dem Klischee männlicher Körperdisziplinierung gespielt und die Forderung nach mehr autonomer Leiblichkeit gegenübergestellt.

Besagte Gebrauchsanweisung war ursprünglich Teil eines umfangreicheren Originals, deren fixe Verweisstruktur aufgebrochen wurde, wodurch Ambiguität hergestellt und die neue Sehfläche für kollektive Weitermodifikationen geöffnet wurde. Dies ermöglichte und animierte eine Großzahl unterschiedlichster Anschlusskommunikationen. In den untersuchten Memes haben sich die Nutzenden diese Sehfläche kollektiv angeeignet und sie durch Erweiterungen bildlicher und schriftlicher Art spezifiziert. Dies geschieht einerseits im Zielbereich, in welchem der Quellbereich elaboriert und differenziert wird. Die Zeigenden geben damit zu erkennen, wann und über was ihrer Ansicht nach legitim geweint werden darf. Durch die Verbindung mit dem Quellbereich wird der Inhalt im Zielbereich andererseits auch erst als traurig, tragisch oder dramatisch ausgewiesen. Dies geschieht zumeist anhand von Sehflächen mit überwiegend visuellen Inhalten. Der semantischen Offenheit bzw. “Dichte” (Stöckl 2011: 49) von Bildern begegnen die Zeigenden mit schriftsprachlichen Überschriften, welche den Beitrag kontextualisieren und seine Bedeutung verankern.

In den Kommentaren werden diese Bedeutungen wiederum ausgehandelt und differenziert, entweder in textueller Form oder durch Reaction-Images. Während die Kommentare eher der vertiefenden, gemeinsamen Einordnung dienen und keinen direkten Einfluss auf die Verbreitung des Beitrags haben, fungiert die Up- und Downvote-Funktion als eine Art Gate-Keeper. Nur Beiträge mit genügend positiven Bewertungen gelangen auf die Hot-Page und werden so einem größeren Publikum zugänglich, was wiederum die Chancen erhöht, dass der Beitrag über die Sharing-Funktionen auf Facebook, Twitter, WhatsApp oder anderen Plattformen geteilt wird. Dadurch wird reguliert, welche Deutungsrahmen sich durchsetzen, z. B. welche Kontexte des Weinens als legitim gelten. Insofern sind auch Kommentare, Bewertungen und Shares als affektstrukturierende Vektoren zu beachten.

5.2 Humor und popkulturelle Referenzen als memetische Stil-Praktiken

Mit den Memes und den dazugehörigen Kommentaren werden aber nicht einfach nur Formen und Anlässe des Weinens verhandelt. Die Art und Weise wie sie verhandelt werden, stellt ein weiteres bedeutsames und nicht zu vernachlässigendes Datum dar. So ist der Gebrauch distinkter visueller Stilmuster ein charakteristisches Merkmal der Kommunikation auf 9gag. Unter Stil versteht Goffman einen “charakteristischen modus operandi” (1980: 319), sprich: eine charakteristische Art und Weise, etwas zu tun. Er steht insbesondere im Dienst der “expressiven Identifizierbarkeit” (ebd.: 318). Wer einen bestimmten Stil pflegt, verleiht sich ein bestimmtes Profil, gibt sich Identität durch die wiederholte Darstellung wahrnehmbarer Elemente. Diese Elemente begleiten andere Handlungen – sie sind nicht die Handlung selbst, sondern etwas, das “ihr Urheber in alle seine Betätigungen einbringt” (ebd.: 320). Stil als Praxis der iterativen Identifizierung unterliegt den Prinzipien der Kontinuität und Kohärenz. Bezogen auf den kollektiven Stil einer Gruppe bedeutet dies, dass im Gebrauch von Stilmitteln Gruppenidentität wie auch –zugehörigkeit (Mitgliedsstatus) jenseits von expliziten und formellen Beitrittskriterien und Statusaskriptionen gesichert wird. Im Falle der 9gag-Community fundiert der Rückgriff auf Comic-Darstellungen einen distinkten Kommunikations-Stil.

Die meisten Ausgangsbeiträge wie auch Reaction-Images sind in einer verspielten, lockeren, oft hyperbolischen und komischen Form gehalten. Die stilistische Komik der Kommunikation installiert auf 9gag einen Grundton der “Leichtigkeit des Abstands” (Plessner 1970: 80), vor dem sowohl ernste als auch unernste Themen verhandelt werden. Es wird also nicht die grundsätzliche Ausrichtung einer Äußerung bzw. eines Zeige-Akts als vielmehr deren Ton moduliert (vgl. Martin 2007: 123).16. Insofern männliche Tränen noch immer ein stigmatisiertes Datum darstellen, ist das Bekennen hierzu als ein potentiell gesichtsbedrohender Akt der Selbstenthüllung zu werten. Die semantische Ambiguität und die Leichtigkeit der humorvollen Rahmungen eröffnen dann die Möglichkeit, eigentlich ‘unsagbare’ Dinge in spielerischer Form ‘sagbar’ zu machen und erleichtern es den Sprechenden, sich zu äußern (ebd.: 124).

Die Memes haben also eine entlastende Funktion: Die Komik relativiert Pathos, Larmoyanz und Schwäche. Diese Konnotationen des Weinens weichen in den Memes einem nonchalanten Augenzwinkern und Schulterzucken. Der Humor bleibt aber subtil, weshalb die Bilder nach zwei Seiten aufgelöst werden können: entweder nach ihrem ernsten Inhalt oder ihrer komischen Form. Der spielerische Gestus der Bilder, aber auch die Interpretationsoffenheit und assoziative Logik, die visueller Kommunikation im Allgemeinen eigen ist, bieten einen Schutzraum. Ob man es ‘wirklich so gemeint hat’ oder es ‘nicht so ernst nehmen’ darf, ist eine Frage, die in der Schwebe bleibt. Die Memes erweisen sich in ihrer ikonischen Verfasstheit und durch die komische Rahmung als doppelt ambig. Es sind u. a. solche Uneindeutigkeiten, die nach Giesen “der Kommunikation ihre Elastizität” geben (2011: 22). Giesen betont zusätzlich die Subversivität und Gemeinschaftlichkeit des Komischen (ebd.: 88ff.). Die Comic-Darstellungen wirken entsprechend nicht nur gruppenbindend in ihrer Funktion als Stil-Kommunikate, sondern auch durch ihre subversiven und leiblich-affizierenden Qualitäten.

Die 9gagger stilisieren ihre Kommunikation zusätzlich durch die Themensetzung. Meier (2012) unterscheidet diesbezüglich zwischen Stil als zeichenhafter Auswahl und Stil als zeichenhafter Formung. Während der Comic-Stil eine besondere Art der Formung (des Wie) ist, stellt die wiederholte Auswahl von Themen und Motiven eine stilistische “Entscheidungspraxis dar, die aus diskursbedingten Sag- und Zeigbarkeiten auswählt” (ebd.: 201). Hierunter fällt im Falle der Try not to cry-Memes sowohl die Wahl der Themen im Zielbereich (Loyalität, Tod, Familie/Freundschaft etc.) als auch die Wahl der Referenzen (Filme, Spiele usw.). Die gezeigten Beispiel-Beiträge lassen sich ohne Vorkenntnisse nur unzureichend verstehen. Wer bspw. das Spiel Metal Gear Solid V nicht kennt, wird dem Meme ratlos gegenüberstehen und höchstens erahnen können, dass hier auf ein Ereignis verwiesen wird, das als traurig erlebt wurde. Hier findet, wie Wagner es nennt, ein “Spiel der In- und Exklusion der Publika” (2014: 139) statt. Der vermittelte Inhalt bezieht sich auf habituelles bzw. konjunktives Wissen, das auf der Ähnlichkeit lebensweltlicher Erfahrungsräume gründet. Im Verweis auf Metal Gear Solid oder Hachiko wird Bezug genommen auf gemeinsame Vorlieben, Weltverständnisse und emotionale Erlebnisse. Die Bilder haben dabei oft nur Zitat-, Verweis- oder Stellvertreterfunktion.

Wenn wir Stills einer Szene aus Hachiko gezeigt bekommen, geht es nicht mehr darum, was die Szene selbst (bzw. was der Regisseur, Drehbuchautor etc. mit der Szene) zeigen wollte, sondern darum, was der Beitrags-Zeigende zeigen möchte, indem er auf die Szene Bezug nimmt. Die Stills dienen der Erinnerung an eigene Erlebnisse, der Assoziation von Wertigkeiten und Sinnzuschreibungen und der Evokation von (geteiltem) Hintergrundwissen und Gefühlen. Es sollen Erinnerungen an Hachiko und die Szene im Speziellen hervorgerufen werden und an die korrespondierenden Wahrnehmungen und Empfindungen. Zugleich werden Loyalität und Mensch-Hund-Beziehungen als bedeutsame Werte in den Vordergrund gerückt und der Film Hachiko als subkultureller Referenzpunkt für diese Werte dem kollektiven Gedächtnis der Online-Community zugeführt. Es handelt sich hierbei um konjunktive Sinngehalte, die sich “‘hinter dem Rücken’ der Teilnehmer als präreflexive und vor-begriffliche Sinngehalte in erlebnisgesättigten, anspielungsreichen, bildhaften, szenischen, metaphorischen, diffusen, tastenden Be- und Umschreibungen” (Michel 2005: 117) manifestieren. Die Referenzen werden auf ihre emotionalen Erlebnisqualitäten hin abgeklopft und entfalten einen Horizont geteilten Wissens, geteilter Erfahrungen und geteilter Gefühle. 9gag wird so zum konjunktiven Erfahrungsraum, in dem sich ein “existentielles Mitschwingen, Teilhaben an einer bestimmten ‘Welt’, einer Gemeinschaft” vollzieht (Mannheim 1980: 226).17

5.3 Kommunikative (Seh-)Gemeinschaften und Affektkulturen

Tönnies (2012) klassischem Verständnis von Gemeinschaft als einem auf Kopräsenz beruhenden Verhältnis des Miteinander-Lebens und -Wirkens werden die Interaktionsformen auf 9gag jedoch nicht gerecht. Stattdessen möchte ich hierfür die Konzepte der Kommunikations- und Sehgemeinschaft zur Beschreibung verwenden. Unter Kommunikationsgemeinschaften versteht Knoblauch (2008) posttraditionale Gemeinschaften, die sich insbesondere aufgrund von Mediatisierungsprozessen durch starke Konventionalisierung, Nivellierung von Statusunterschieden und durch eine identitätsstiftende ‘Geschwätzigkeit’ auszeichnen. Zugehörigkeit werde “vorgängig kommunikativ ausgewiesen […], situativ angezeigt oder performativ belegt” (ebd.: 86). Hierzu dienen den 9gag-Nutzenden bestimmte visuelle Kommunikationstechniken wie Memes als “Vehikel”, um “ihre sinnlichen Wahrnehmungen aufeinander abzustimmen und einander anzugleichen, um ihre Erfahrungen zu vereinheitlichen und so Intersubjektivität und Gemeinschaften herzustellen” (Raab 2008: 13).

Da primär über bildbasierte Sehflächen, v. a. Memes, kommuniziert wird, ließe sich konkreter von visuellen Kommunikationsgemeinschaften oder, mit Jürgen Raab, von “Sehgemeinschaften” (ebd.) sprechen. Damit ist gemeint, dass durch Bildpraktiken soziale Räume konstituiert werden, “in denen die Handelnden soziale Zugehörigkeiten und Abgrenzungen durch ästhetisches Handeln und durch die Ausbildung von Sehordnungen und Sehstilen herstellen und vorführen, so soziale Ordnung auf Dauer stellen und neu entwerfen” (ebd.: 319). Der “ästhetische Wahrnehmungs- und Handlungsraum” (ebd.: 306) 9gag erweist sich als szene-ähnliche Teilzeit-Gesellungsform18 oder auch Sinnprovinz, d. h. als “Enklave in der obersten Wirklichkeit”, deren Grenzen markiert sind “durch fest umzirkelte Bedeutungs- und Erfahrungsweisen” (Berger/Luckmann 2009: 28).

Die Try not to cry-Memes sind nun besonders aufschlussreich, da sie nicht einfach nur ein community-spezifisches Kommunikationsmuster darstellen, sondern sich in ihnen auch ein ‘sehgemeinschaftlicher’ Umgang mit konkreten Emotionen ausdrückt. Wie gezeigt wurde, handelt es sich nicht lediglich um explizite theoretische oder literarische Thematisierungen und Interpretationen von Emotionen. Die Nutzenden verhandeln in memetischen Praktiken (wozu auch die Anschlusskommunikationen zählen) vielmehr die Legitimität sowie die adäquaten Formen und Anlässe des (männlichen) Weinens, sie suchen Rückversicherung in der Online-Gemeinschaft und etablieren gemeinsame Wertsphären, Sinnhorizonte und Rahmen leiblichen Erfahrens.

Insofern sind die Try not to cry-Memes Teil einer subsinnweltlichen Affektkultur. Reckwitz definiert Affektkulturen als “Komplexe von sozialen Praktiken, kulturellen Diskursen (die nicht nur textuelle, sondern auch visuelle Diskurse umfassen) und zugehörigen Artefakten (z. B. Medientechnologien oder räumliche Strukturen) […], welche im Individuum eine spezifische Hervorlockung und Hemmung von bestimmten Emotionen, sinnlichen Orientierungen und Affiziertheiten betreiben” (2010: 61). Praktiken, so Reckwitz, strukturieren Wahrnehmung und Aufmerksamkeit – und das nicht nur auf der kognitiven Ebene: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit seien immer mit “Affekten verwoben” (2015: 107).

Wenngleich die hier besprochenen Memes selbst in der Regel keine großen Emotionen hervorrufen, so zeigte sich doch deutlich, dass die Nutzenden mit den Memes und in den Kommentaren ein leibliches Betroffensein (vgl. Schmitz 2009) artikulieren und ihren ‘Affekthaushalt’ ausrichten. Sie tun dies, indem sie die Wahrnehmung auf männliche Tränen lenken und diese zum Gegenstand der Kommunikation machen. Der starke Einsatz bildlicher Elemente wie auch die stilistische Überformung durch Comic-Darstellungen übernehmen dabei wichtige metakommunikative Funktionen: Während Schrift aufgrund ihrer Arbitrarität Autorenschaft impliziert und die individuelle Perspektive betont, suggeriert das Bild überindividuelle Evidenz aufgrund seiner Konkretheit. Ikonische Zeichen sind wahrnehmungsnah, werden also intuitiver und direkter rezipiert und erzeugen so eine größere intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Folgebereitschaft. Die assoziative Kraft von Bildern appelliert dabei überwiegend an Emotionen (Stöckl 2011: 48) und eignet sich daher in besonderem Maße zur Artikulation selbiger. Durch ihre humorvolle Rahmung wiederum senken die Memes die Schamschwelle und setzen zugleich lustvolle und gruppenintegrative Reize.

Die Try not to cry-Memes stellen also konkrete Ausdrucksformen für die Thematisierung des Weinens zur Verfügung. In den Memes werden männliche Tränen ‘sagbar’, das Reden über sie wird möglich. Die kollektive Meme-Praxis auf 9gag schafft so einen im wahrsten Sinne des Wortes eigen-artigen Artikulationsraum für männliche Gefühle. In der Sehgemeinschaft der 9gagger entstehen bildlich-textuelle Formatvorlagen für die Kommunikation männlicher leiblicher Regungen, die eine spezifische Sprachfähigkeit und damit einhergehend neue Möglichkeiten der männlichen Selbsterfahrung hervorbringen. Die Bedeutung des Weinens wird nicht radikal umgepolt, aber zumindest im Rahmen männlicher Affektkultur neu verortet und besetzt.

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Datenverfügbarkeit

Alle relevanten Daten befinden sich innerhalb der Veröffentlichung.

Interessenskonfliktstatement

Die Autor:innen erklären, dass ihre Forschung ohne kommerzielle oder finanzielle Beziehungen durchgeführt wurde, die als potentielle Interessenskonflikte ausgelegt werden können.


  1. Hin und wieder wird das Thema publizistisch aufgegriffen: So wurde im Frühjahr 2012 ausgehend von einem ZEIT-Artikel (Pauer 2012) in Repliken und Responsen (vgl. Burmester 2012; Ketteler 2012; Kreby 2012; Lohre 2012; Thomann 2012) für eine kurze Zeit kontrovers diskutiert, ob es denn einen neuen Typus Mann – die (verweichlichten) ‘Schmerzensmänner’ – tatsächlich gäbe und wenn ja, wie dieser zu bewerten sei.↩︎

  2. Plessner folgend unterscheidet Landweer Leib und Körper wie folgt: “Der Begriff des Leibes bezeichnet danach den erlebten und gespürten Körper, das, was nur aus der Perspektive der ersten Person erfahrbar ist, während der Begriff des Körpers dem vorbehalten wird, was am Körper von außen wahrgenommen werden kann […]. Der Körper ist der vergegenständlichte, seiner Subjektivität entkleidete Leib, also z. B. das, was ‘am’ Schmerz gemessen werden kann” (Landweer 2016: 146).↩︎

  3. Beispiele lassen sich in den Medien zuhauf finden, wenn etwa der Fußballtrainer Ralf Rangnick seine Depressionen nicht als psychischen Zustand, sondern als rein körperliches Gebrechen thematisiert (vgl. Titton 2013) oder der Sportler Bastian Schweinsteiger in einer Werbung für eine bekannte Deomarke eine Träne verdrückt, während es im Off heißt: “Echte Männer weinen nicht – es sei denn, sie packen sich genug Gewichte drauf” (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=M6XPiUwnOuo, Right Guard 2013).↩︎

  4. Besonders wenn es sich nicht um große Emotionen wie Trauer oder Triumph in Sport, Krieg und Politik handelt, sondern um eher schlichte und alltägliche leibliche Regungen wie den Wunsch zu “lachen, weinen, tanzen” (vgl. https://youtu.be/o1Colmcapbk?t=131, Kebekus 2016).↩︎

  5. Wo sinnvoll werde ich im Folgenden eine geschlechterneutrale Schreibweise verwenden.↩︎

  6. Zur Verbindung von Sprache, Denken und Emotion vgl. auch Gebauer/Edler (2014).↩︎

  7. Unter (Internet-)Viralität soll die überdurchschnittlich schnelle und zahlreiche Verbreitung eines Inhalts verstanden werden, die in Form einer Kettenreaktion von den Nutzenden selbst ausgeht, meist durch Teilen oder Weiterleiten.↩︎

  8. Die kritische Masse ist ein quantitativer Zustand, der, sobald er erreicht wird, zu einer Kettenreaktion führt. Gemeint ist eine Schwelle “die, sobald sie überschritten wird, selbst erhaltend abläuft und außerordentlich wachsen kann” (Russ 2010: 43). Bezogen auf menschliche Interaktionen ist damit die Anzahl an Menschen gemeint, die eine Idee, ein Verhalten o. ä. adaptieren oder anderweitig zu deren Verbreitung beitragen. Die kritische Masse verhält sich immer relativ zur Größe des Verbreitungsraumes (Schule, Stadt, ein Imageboard oder ‘das’ Internet) und ist meist nur rückblickend zu eruieren.↩︎

  9. Dabei gilt zu beachten, dass diejenigen, die ein Meme posten, nichts mit der Herstellung des Memes zu tun haben müssen.↩︎

  10. Da es sich um einen qualitativen Zugang handelt, ist der Ausschnitt der betrachteten Phänomene per se begrenzt. Es bleibt bei qualitativen Bildanalysen von Memes de facto eine Lücke bestehen zwischen dem konstitutiv kollektiven Charakter des Untersuchungsmaterials und den an Mikroprozessen und Fallbetrachtungen interessierten empirisch-methodischen Zugängen. Eine Triangulation mit ethnographischen und quantitativen Analysen empfiehlt sich daher.↩︎

  11. Ich beziehe mich hier nur auf den Inhalt. Die Bilder unterscheiden sich in Größe und Schärfe, auch ist in allen Bildern der untere Bildrand unterschiedlich stark abgeschnitten. Dies verweist auf bestimmte ‘Abnutzungsprozesse’ während der kollektiven Bildbearbeitung und -verbreitung. Zum Automatismus von “Verlust und Neugenerierung” bei der digitalen Bildzirkulation vgl. Marek (2014: 119).↩︎

  12. Durch das Gezeigte soll also eine Handlung oder eine andere Art von Veränderung in der Welt veranlasst werden (vgl. Austin 1979; Schmitz 2007).↩︎

  13. Das Schema in Abb. 13 ist eine analytische Vereinfachung. Die Semiose verläuft nicht vom Quellbereich über den Zielbereich zum Ankerpunkt oder umgekehrt und auch nicht in anderen schrittweisen Abfolgen. Memes wie das obige entfalten ihre Bedeutung nicht rein sukzessive (von Element zu Element), sondern auch holistisch (über Gestalt und ‘Ganzheit’ der Erscheinung) und rekursiv (vor und zurück). Gottfried Boehm versteht das Wechselspiel von Simultaneität und Sukzession als Besonderheit ikonischer Zeichensysteme und fasst es mit dem Begriff der ikonischen Differenz: “Wie zwingend die ikonische Differenz (simultan – sukzessiv) verbindet, lässt sich daran ablesen, dass wir gar nicht umhin können, das einzelne Element unter dem Horizont des Ganzen zu sehen, wie zwingend sie aber auch trennt, erkennen wir daran, dass sich die bildliche Simultanwahrnehmung nur kurz aufrecht erhalten lässt” (1996: 163, Hvhb. i. O.).↩︎

  14. Die Köpfe der Ts stellen die geschlossenen Augen dar, die Füße die Tränen.↩︎

  15. http://knowyourmeme.com/memes/wojak-feels-guy (06.04.2017), eigene Übersetzung.↩︎

  16. Aus der Form ist also keine pauschale Aussage über ihre Ernst- oder Unernsthaftigkeit abzuleiten. Ernst und Unernst sind pragmatische Dimensionen, die sich immer erst aus dem kommunikativen Kontext heraus erschließen lassen.↩︎

  17. Von einer Community bzw. Gemeinschaft lässt sich bei 9gag sprechen, da es sich um eine große Gruppe von Menschen handelt, “who share interaction, social ties, and a common interaction format, location or ‘space’ – albeit, in this case, a computer-mediated or virtual ‘cyberspace’” (Kozinets 2010: 10).↩︎

  18. Die Strukturen ähneln denen von Szenen, da die Teilnahme einer freiwilligen Selbstbindung unterliegt und die Interaktionen eine dynamische Teilzeit-Gesellungsform hervorbringen (vgl. Hitzler 2005).↩︎

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Zitationen
4
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4 citations recorded by Crossref
  
  1. Das vergessene Subjekt
    Sascha Oswald (2019)
    Book content
    DOI: 10.1007/978-3-658-23936-7_13

  2. Emotions in media discourses on the example of memes
    Sławomir Kowalewski et al. (2023)
    Colloquia Germanica Stetinensia
    DOI: 10.18276/cgs.2023.32-10

  3. The Forgotten Subject
    Sascha Oswald (2023)
    Colloquia Germanica Stetinensia
    DOI: 10.1007/978-3-658-42872-3_13

  4. A cultura dos memes: aspectos sociológicos e dimensões políticas de um fenômeno do mundo digital
    Vicktor Chagas (2020)
    Colloquia Germanica Stetinensia
    DOI: 10.7476/9786556301785.0002

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  1. Themen, Motive und Mainstreaming in rechtsextremen Online-Memes
    Josephine B. Schmitt et al. (2020)
    Medien & Kommunikationswissenschaft
    DOI: 10.5771/1615-634x-2020-1-2-73

  2. Emotions in media discourses on the example of memes
    Sławomir Kowalewski et al. (2023)
    Colloquia Germanica Stetinensia
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  3. Friendzone Level 5000. Memes als bildvermittelte Subjektivierungspraktiken
    S. Oswald (2019)
    Medien • Kultur • Kommunikation
    DOI: 10.1007/978-3-658-23936-7_13

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2017-05-01

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2017-12-01

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2018-03-01