Belanglose Bilder - Vom Viral zum Internet-Mem

  • Giannina Herion Freiberuflerin im Kommunikationsbereich, Berlin

DOI:

https://doi.org/10.15460/kommges.2018.19.2.593

Schlagworte:

Alltagskultur, Netzwerk, Bild, Aussage, Soziale Medien, Diffusion, Rezeption, Emotionalität, Fotografie, Internet, Twitter

Redaktion und Begutachtung

  • Georg Fischer Technische Universität Berlin
  • Lorenz Grünewald-Schukalla HIIG Berlin

Abstract

Meme, Satire und Humor sind eng miteinander verbunden und fester Bestandteil der digitalen Alltagskultur. Das Internet-Mem #KiyiyaVuranInsanlik (auf Deutsch sinngemäß „Menschheit, an die Küste gespült”) bildet einen Ausnahmefall, da es sich auf die Fotografien eines toten Kindes bezieht. Anhand der Fotografie des auf der Flucht ertrunkenen zweijährigen Alan Kurdi, welches über die sozialen Medien um die Welt ging, stellt der Artikel Fragen zum Umgang mit den Bildern und Memes in sozialen Medien: Warum teilen und verändern Menschen die Fotografien? Warum nicht? Welche Folgen hat die Verbreitung? Welche bildethischen, -rechtlichen oder -ökonomischen Überlegungen in Bezug auf die Verwendung von digitalen Bildern in Kommunikationsplattformen lassen sich ableiten? Dieser Text nimmt diese Fragen auf und reformuliert sie ausgehend von der Theorie des punctums von Roland Barthes bildtheoretisch. Was passiert mit den Fotografien? Wie verbreiten sich diese im Netz? Wie verändert der soziale Umgang mit den Fotografien im Internet die Bildaussagen?

Einleitung

Meme, Satire und Humor sind eng miteinander verbunden und fester Bestandteil der digitalen Alltagskultur. Das Internet-Mem #KiyiyaVuranInsanlik (im Englischen übersetzt als „HumanityWashedAshore”, im Deutschen sinngemäß „Menschheit, an die Küste gespült”) bildet einen Ausnahmefall, da es sich auf die Fotografien eines toten Kindes bezieht.

Am 2. September 2015 veröffentlicht die türkische Nachrichtenagentur Doğan Haber Ajansi (DHA) Fotografien des auf der Flucht ertrunkenen zweijährigen Alan Kurdi, ohne seinen Namen zu nennen. Aus mehreren Perspektiven scheinen die Aufnahmen der Fotojournalistin Nilüfer Demir zu bezeugen, wie das Kind am Strand des türkischen Badeortes Bodrum aufgefunden wird. Die Pressefotografien erscheinen online in einem türkischen Nachrichtenartikel und werden anschließend ohne erläuternde Hintergrundinformationen international über Kommunikationsplattformen wie Twitter und erst dann über traditionelle Medien wie Tageszeitungen verbreitet. In der anschließenden medialen Berichterstattung wird das Kind identifiziert und unterschiedliche Narrative der Fluchtgeschichte geliefert. Demnach versuchen der Vater Abdullah (40), die Mutter Rehanna (35) sowie die beiden Söhne Galiph (5) und Alan (2) über die östliche Mittelmeerroute von der Türkei nach Europa zu fliehen. Das Fluchtboot kentert. Die Mutter und die beiden Söhne ertrinken. Der Vater Abdullah Kurdi überlebt.

Nach der Veröffentlichung der Fotografien seines toten Sohnes entsteht unter Hashtags wie #KiyiyaVuranInsanlik, #DrownedSyrianBoy, #AylanKurdi oder #AlanKurdi ein Internet-Mem. Nicht Humor, sondern Emotionen wie Trauer und Wut scheinen daraus ablesbar.

Der Umgang mit den Bildern kann zahlreiche Fragen aufwerfen: Warum teilen und verändern Menschen die Fotografien? Warum nicht? Welche Folgen hat die Verbreitung? Welche bildethischen, -rechtlichen oder -ökonomischen Überlegungen in Bezug auf die Verwendung von digitalen Bildern in Kommunikationsplattformen lassen sich ableiten? Dieser Text nimmt diese Fragen auf und reformuliert sie ausgehend von der Theorie des punctums von Roland Barthes bildtheoretisch. Was passiert mit den Fotografien? Wie verbreiten sich diese im Netz? Wie verändert der soziale Umgang mit den Fotografien im Internet die Bildaussagen?

Viral mit 53.000 Tweets pro Stunde

Als erste teilt die Journalistin und Aktivistin Michelle Demishevich am Morgen des 2. September um 10:23 Uhr die DHA-Pressefotografien des toten Kindes auf Twitter. Innerhalb von kurzer Zeit (im Laufe der ersten zwölf Stunden) verbreiten sich die Fotografien weltweit. Geteilt von internationalen Journalist_innen, Mitarbeiter_innen von Hilfsorganisationen bis hin zu vielen anderen unabhängigen Privatpersonen. Ein Höhepunkt der Verbreitung wird mit rund 53.000 Tweets pro Stunde erreicht (vgl. Vis/Goriunova 2015). Der Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik wird an diesem Tag auf Twitter zum weltweiten „top trending tweet”. Ein weiterer Hashtag lautet #DrownedSyrianBoy und wird im Anschluss um #AylanKurdi ergänzt (vgl. Wardle 2015: 67). Der kurdische Vorname Alan wird in den türkischen Vornamen Aylan übersetzt und als dieser verwendet. Die Bilder erscheinen innerhalb von 12 Stunden auf 20 Millionen Bildschirmen (vgl. d’Orazio 2015). Trotz des Tabus von Todesdarstellungen auf Kommunikationsplattformen stufen die Menschen die Bildnachricht als mitteilungswürdig ein.

Die Beschreibung der medialen Verbreitung legt offen, dass sich die Fotografien aus dem Nachrichtenartikel herauslösen. Die internationale Aufmerksamkeit für das Thema wird zuerst über die virale Verbreitung der Aufnahmen auf Kommunikationsplattformen geweckt. Die kontextlose Veröffentlichung beeinflusst das Suchinteresse im Internet. In Suchmaschinen wird gefragt, um wen es sich auf den Bildern handle und was passiert sei (vgl. Rogers 2015: 20f.).

Während Individuen auf Twitter schnell agieren, reagieren Medien wie Tageszeitungen langsamer, denn sie recherchieren die Hintergründe. Einige verzichten auf die Veröffentlichung der Fotografien, da sie meinen, eine Narration der Tragödie reiche zum Verständnis der Katastrophe aus. Andere erhoffen sich mit der Publikation die Einleitung einer Wende in der Flüchtlingspolitik (vgl. Fahey 2015). Einen Mittelweg versuchen Medien, die die Abbildungen verpixelt zeigen. Redaktionen liefern Texte und Kontexte zu den Bildern, soziale Medien lediglich die Bilder in Kombination mit Hashtags und kurzen persönlichen Statements. Die Angehörige Tima Kurdi lädt auf ihrer Facebookseite private Familienfotos hoch und ruft dazu auf, den Verstorbenen lebendig in Erinnerung zu behalten. Dennoch dominieren die Aufnahmen des toten Kindes (vgl. Kurdi 2015a; Vis 2015). Wer die Fotografien im Internet sucht, findet sie.

Abbildung 1: Beispiele für das Internet-Mem #KiyiyaVuranInsanlik. Quelle: Hall/MacFarlan 2015 (links) http://www.twitter.com/SteveDennis71 (rechts)

Vom Viral zum Internet-Mem

Die Geschichte der Fotografien geht weiter. Die Fotos werden nicht nur online geteilt, sondern auch verändert. Innerhalb der ersten 48 Stunden dominiert die virale Verbreitung der Pressefotografien. Ab dem 4. September finden sich Zeichnungen, Remixe oder Illustrationen im Internet, die sich in unterschiedlicher Intensität auf die Agenturfotos beziehen (vgl. d’Orazio 2015).

Ein Mem entsteht: Das visuelle Bindeglied des Mems ist das Kernmotiv des Jungen. Unter anderem werden die Position des Körpers, das (rote) T-Shirt, die (blaue) Hose und die Turnschuhe aufgegriffen. Als eine Art des Umgangs mit den Bildern, die im Folgenden näher erläutert wird, kann die Einbettung betrachtet werden. In mehreren Bildvariationen wird der abgebildete Körper in neue Bildkontexte versetzt oder andere Bildinhalte werden in die Fotografien eingefügt. Die künstlich geschaffenen Umgebungen erscheinen friedlich oder kindgerecht. Als Motivvariante tritt häufig die des schlafenden Kindes auf. In einer Version werden zwei Welten einander gegenübergestellt: auf der rechten Bildseite die ursprüngliche Fotografie – auf der linken die Abbildung eines Bettes wie in einem Inneneinrichtungskatalog (Abb. 1, links). Der Unterkörper liegt am Meeresufer, der Kopf ruht auf einem weißen Kissen gebettet, die aufgeschlagene Bettdecke umrandet den kindlichen Oberkörper. Neben dem Bett steht eine leuchtende Nachttischlampe. Zwischen den „Bildwelten“ über dem Körper des Kindes der Spruch „From embrace of Syria. To drowning in a sea in Turkey“. Auch in anderen Bildtransformationen wird das Schlafmotiv aufgegriffen. So wird der Junge in einer Zeichnung in einem hölzernen Kinderbett in einem Zimmer bei Nacht imaginiert (Abb. 1, rechts). Licht fällt durch ein Fenster, an dem eine Wolke vorüberzieht. Über dem „schlafend“ anmutenden Kind schwankt ein Mobile aus Himmelskörpern, gelben Sternen und dem Mond. Auf einem Tisch steht ein Glas Wasser. Eine heile Welt.

Abbildung 2: Beispiele für das Internet-Mem #KiyiyaVuranInsanlik. Quelle: http://www.twitter.com/ArtforAmnestyUS (links), http://www.twitter.com/CBCnewsb (rechts)

In einer anderen Bildvariante, einer Art aquarellierten Zeichnung, wird der Kopf des Kindes in einem Sternenhimmel auf ein türkisfarbenes Kissen gelegt (Abb. 2, links). Neben seinem Arm liegt ein kleiner brauner Teddybär. Kräuselnde Meereswellen aus schwingenden, sich kräuselnden schwarzen Linien bedecken den Unterkörper. Eine Traumwelt.

Eine Zuspitzung erfährt die Harmonisierung in einer comicartigen Darstellung, in der Kinder mit einem Lächeln auf den Lippen friedlich unter der „Meeresdecke“ schlafen (Abb. 2, rechts). Die Liste an Beispielen ließe sich weiter fortführen – weltweit haben sich Amateur_innen, Künstler_innen und Aktivist_innen, aber auch Journalist_innen die Pressefotografien angeeignet, diese nachgeahmt oder verändert. Das ursprüngliche Bildmotiv wird hypermemetisch, da es in vielen verschiedenen Bildkontexten auftaucht (Shifman 2014: 28).

Für die Kulturwissenschaftlerin Limor Shifman zirkuliert auf einer abstrahierten theoretischen Ebene bei einem Mem eine „Sammlung von Einheiten“, deren Bestandteile sich voneinander unterscheiden, während ein Viral als Form „einer einzelnen kulturellen Einheit“ verstanden werden kann (ebd.: 56). Virals wie die Agenturfotos verbreiten sich als identische Meme, die Zeichnungen und Remixe als variierende Informationseinheiten. Dem bloßen Teilen der digitalen Fotografien kann eine andere Motivation zugrunde liegen als ihrer Transformation. Die Veränderung rekontextualisiert die ursprüngliche Bildnachricht. Subjektive Meinungen treten hervor.

Die gegenwärtige „Kultur der Digitalität“ formiert sich nach dem Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder aus der „Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität“ (2016: 95). Internet-Meme gehen aus diesem kulturellen Umfeld hervor. Bei dem Mem #KiyiyaVuranInsanlik eignen sich Menschen über referentielle Praktiken wie Remixen oder Zitieren die Pressefotos an. Algorithmen finden und ordnen die Hashtags und Meinungsbilder in Suchmaschinen und auf Kommunikationsplattformen.

Im Gegensatz zu herkömmlichen Memen fällt auf, dass versucht wird, die ursprüngliche Bildwelt zu harmonisieren. Es ist eine eigenwillige, individuelle Form des Gedenkens, die diese Bildantworten der Trauer vereint. Die Schaffung einer Art Memoria gemäß individueller Wunschvorstellungen, die letzte Einbettung des Kindes in eine friedliche Welt. Die emotionalen Reaktionen können als eine Strategie zur Kompensation der durch die Todesnachricht ausgelösten psychischen Irritation verstanden werden (vgl. Ryan 2015: 44f.). Mit ihnen entsteht im Netz eine gemeinsame und gleichzeitig voneinander getrennte Gefühlswelt der Trauer oder Wut. Auf diese Weise werden, wie Stalder schreibt, „Verfahren des Sich-Einschreibens in die Welt durch Hinweisen, Verbinden und Verändern […] angewandt, um durch das eigene Handeln in der Welt Bedeutung zu schaffen und um sich selbst in ihr zu konstituieren, für sich und für andere“ (2016: 123).

Im Fall von #KiyiyaVuranInsanlik handelt es sich um ursprünglich kostenpflichtige Pressefotografien von und für Medienunternehmen, die auf Kommunikationsplattformen gebührenfrei genutzt werden. Der monetären Ver- und Entwertung von Bildern in digitalen Zeiten nachzugehen eröffnet vor dem Hintergrund von Fragen rund um Digitalisierungsprozesse und Bildrechte ein eigenes Forschungsfeld. Die Beschäftigung mit dieser Thematik kann einem die scheinbare „Wertlosigkeit von Menschenleben“ gegenüber der scheinbaren „Werthaftigkeit von Bildern“ erschreckend vor Augen führen.

Die Website “Know your Meme” archiviert das Mem neben einer Vielzahl von humorvollen Beispielen unter dem Titel „Drowned Syrian Boy“ und der britische Independent titelt bei der Veröffentlichung der Fotografien „Somebody’s child“ (vgl. Hare 2015). Alan Kurdi wird zunächst als Kind ohne Namen bekannt und zu einem öffentlichen Symbol gemacht, das für andere Menschen stehen soll. Ein geliebter, einzigartiger Mensch ist jedoch für seine Freunde oder Familienangehörigen unersetzlich (vgl. Derrida 1987: 26). „Das Leben eines Menschen, so einzig wie sein Tod, wird immer mehr als ein Paradigma sein und immer etwas anderes als ein Symbol. Und es ist dieses selbst, was ein Eigenname immer nennen sollte“ (Derrida 2014: 7). Selbst ein Jahr später tauchen in den Medien falsche Lebensdaten von Alan Kurdi und seiner Familie auf. Die Oberflächlichkeit der Berichterstattung erschüttert seine Tante Tima Kurdi, die kritisiert: „Es macht mich tieftraurig, dass wir der Jungen mit Namen gedenken, die ihnen nicht gehören: Sie heißen Alan, nicht Aylan, und Ghalib, nicht Galip“ (Kurdi: 2015b).

Ein belangloses Foto. Rolandes Barthes Theorie des punctums

Die Fotografien von Alan Kurdi zählen bedauerlicherweise mit zu den am weitesten verbreiteten Todesbildern der Medien- und Bildgeschichte. Der laut schreienden, ungeschützten Pressefotografie eines toten Kindes wird nun eine vor den Augen der Öffentlichkeit verborgene, behütete, stille Fotografie eines lebendigen Kindes gegenübergestellt, um bildtheoretische Überlegungen im Spannungsfeld von Originalität und Viralität zu verdeutlichen.

In seinem Werk „Die helle Kammer“ vergleicht Rolandes Barthes seine Beobachtungen von öffentlichen Fotografien mit den unveröffentlichten Privataufnahmen seiner Mutter. In Trauer um ihren Tod sucht Barthes nach dem Wesen seiner einzigartigen Mutter und der „Evidenz der PHOTOGRAPHIE“ (1989: 70). Bei seiner Analyse unterscheidet er zwischen dem studium und dem punctum einer Fotografie, die parallel existieren können. Während des studiums schweift der Blick über das Motiv und erfasst oberflächliche, allgemeine Aussagen. Das punctum scheint in Fotografien seltener aufzutauchen und kann als ein ins Auge stechendes „Detail“ den Blick bannen (1989: 105, 52). Nicht nur das punctum des Details, sondern insbesondere das punctum der Zeit vermag es, die oberflächliche Betrachtung einer Fotografie zu durchdringen. Auf der Wintergartenfotografie aus dem Jahr 1898 steht seine Mutter als fünfjähriges Mädchen neben ihrem sieben Jahre alten Bruder in einem Wintergarten mit Glasdach. Bei der Betrachtung der Fotografie erfährt Barthes jenes punctum der Zeit: „[S]ie wird sterben“ (1989: 105f.), als eine „singuläre Erkenntnis“ (Sykora 2015: 79), denn:

Für Sie wäre es nichts als ein belangloses Photo, eine der tausend Manifestationen des absolut beliebigen »Gegenstands überhaupt«; es kann auf keine Weise das sichtbare Objekt einer Wissenschaft darstellen; es kann keine Objektivität im positiven Sinne des Begriffs begründen; bestenfalls würde es für Ihr studium von Interesse sein: Epoche, Kleidung, Photogenität; doch verletzen würde es Sie nicht im mindesten (Barthes 1989: 83).

Der „Index des Todes“ trifft Barthes als „punctum des Todes oder des Lebens“ (Sykora 2015: 81). Die Mutter lebt zum Zeitpunkt der Aufnahme, wird sterben und ist zu dem Zeitpunkt der Betrachtung verstorben. Barthes wird als Sohn mit der unausweichlichen Grenzerfahrung des Todes seiner Mutter konfrontiert. Allerdings porträtiert die Fotografie die verstorbene Mutter als ein lebendiges Kind – ein Kind, das Barthes als ihren Sohn nicht kannte. Somit verweigert sich die Aufnahme der Möglichkeit einer Erinnerung an die Mutter als lebendiges Kind. Ein visuelles Fragment reicht für die Erinnerungsarbeit letztendlich nicht aus, sondern kann sie als „Gegen-Erinnerung“ blockieren (Barthes 1989: 102). Mit der Unmöglichkeit der Repräsentation seiner Mutter in der Fotografie verweist Barthes auf die Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit dieses Menschen für ihn. Die Fotografie ist für ihn aufgrund ihrer persönlichen Beziehung von Belang und Bedeutung. Er schützt die unübertragbare und singuläre Intimität, denn er veröffentlicht die Fotografie wie den Namen seiner Mutter nicht. Immer wieder neu imaginiert, zählt die Wintergartenfotografie dennoch zu den bekanntesten „Einbildungen“ der Fotografiegeschichte und -theorie.

Oszilliert die Fotografie der Mutter bei Barthes zwischen Leben und Tod, da es sich um ein Lebendporträt handelt, so ist die Aussage bei den Pressefotos nicht „er wird sterben“, sondern vielmehr „er ist gestorben“ und „sieh da, er ist tot“. Ein Todesporträt vergegenwärtigt anders als ein Lebendporträt nicht das, was zum Zeitpunkt der Aufnahme lebendig, sondern tot ist. Die Fotografie verweist auf das Dagewesenseins ihres Referenten. Begreifen Menschen, dass das abgebildete Kind tot ist, kann die Möglichkeit bestehen, dass sie „die absolute Singularität des Anderen“ (Derrida 1987: 13) erfahren. Der Tod – die Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Anderen – kann die Betrachter_innen wie ein „punctum des Todes“ treffen und verletzen. Jedoch kann dieses Ereignis nicht antizipiert und generalisiert werden, da es sich um eine singuläre Erfahrung handelt. Das punctum kann auch ausbleiben. Bei den hier aufgeführten Bildtransformationen waren die Rezipient_innen womöglich von einem punctum affiziert, dass sie mit der Harmonisierung abwendeten, da sie den Tod des Kindes nicht ertrugen. Der Tod beendet ein einzigartiges Leben – jedes sterbliche Lebewesen erscheint als ein Original.

Postpunctum

Übertragen auf die Pressefotografien bedeutet dies: Der Verweis auf die Einzigartigkeit des menschlichen Lebens bleibt bei der Reproduktion der Fotografien erhalten. Mit der Transformation des ursprünglichen Motivs kommt es zu einer Veränderung der Bildnachricht. Die Pluralität der Singularität wandelt sich in dem transformativen Akt in neue singuläre Bilder. Die memetischen Bilder entfernen sich in einem weiteren Schritt bis zur Unkenntlichkeit von den Pressefotografien und dem Entstehungsmoment. Mit dem Remix aus Bild und Fotografie entsteht ein neues Bild, das lediglich Fragmente der Fotografie enthält. Die Fotografie wird mit der Transformation zum bloßen Bild. Mit der Verwandlung der Fotografie kann es zu einer Abschwächung oder sogar Auslöschung der ursprünglichen Bildinformation kommen.

Wenngleich sich jede Fotografie einer vertiefenden Interpretation verweigert, konstatiert Barthes, ihre einzige mögliche Aussage sei: „»daß es so gewesen ist« und »für jeden, der ein Photo in den Händen hält, liegt darin ein ‚fundamentaler Glaube‘«, eine »URDOXA«, die nichts zerstören kann, es sei denn man beweist (mir), daß dieses Bild keine Photographie ist“ (1989: 117, Hervorhebungen im Original). In Anbetracht des Mems #KiyiyaVuranInsanlik lässt sich der Barth‘sche Gedanke des Glaubens dahingehend formulieren, dass es so wie auf den memetischen Bildern nicht gewesen sein kann, da es keine Fotografien mehr sind. Wenngleich eine digitale Fotografie in ihrer leichten Manipulierbarkeit weniger glaubwürdig als beispielsweise eine analoge Fotografie sein kann. Aus den memetischen Bildern spricht nicht mehr nur die Todesnachricht, sondern der Schlaf, die Trauer oder Wut. Das punctum des Todes kann mit der Transformation verschwinden. Der Mensch kann vergessen werden. Für die Menschen erhalten die memetischen Bilder Bedeutung, da sie zum Ausdruck ihrer eigenen Emotionen werden. Zum Viral werden deshalb nicht die Adaptionen, sondern die digitalen Fotografien. Mit den Fotografien wird eine Nachricht verbreitet, die als so glaubwürdig und bedeutungsvoll erscheint, dass Menschen sie weltweit mitteilen. Mit dem Mem entstehen diverse und emotionalisierte Meinungen, die nicht jeder teilt oder versteht. Die Fotografien beziehen sich auf den Referenten, die memetischen Bilder stärker auf die Produzent_innen. In der Auswertung der Meinungsbilder lassen sich Aussagen über gesellschaftliche Stimmungen treffen. Im Netz sehen die Menschen jedoch vor allem die vereinzelten Bilder und klicken weiter. Die laut schreienden, weltbewegenden Agenturfotografien verschwinden still in flüchtigen, belanglosen Bildern.

Literatur

Barthes, Roland, 1989, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. Main. Suhrkamp Verlag.

Derrida, Jacques, 1987, Die Tode von Roland Barthes. Das Foto-Taschenbuch. Berlin. Dirk Nishen Verlag in Kreuzberg.

Derrida, Jacques, 2014, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Lizenzausgabe mit Genehmigung des S. Fischer Verlages. Frankfurt a. Main. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft.

d’Orazio, Francesco, 2015, Journey of an Image: form a beach in Bodrum to twenty Million Screens across the World. S. 11–18, in: Farida Vis und Olga Goriunova (Hg.): The Iconic Image on Social Media: A Rapid Research Response to the Death of Aylan Kurdi. Online Publikation: http://research.gold.ac.uk/14624/1/KURDI%20REPORT.pdf (Stand 28.08.2017)

Fahey, Jamie, 2015, The Guardian’s decision to publish shocking photos of Aylan Kurdi, The Guardian Online 7. September 2015. Online Publikation: https://www.theguardian.com/commentisfree/2015/sep/07/guardian-decision-to-publish-shocking-photos-of-aylan-kurdi (Stand: 20.10.2017)

Goriunova, Olga und Farida Vis, 2015, Conclusion. S. 71, in: Farida Vis und Olga Goriunova (Hg.): The Iconic Image on Social Media: A Rapid Research Response to the Death of Aylan Kurdi. Online Publikation: http://research.gold.ac.uk/14624/1/KURDI%20REPORT.pdf (Stand 28.08.2017)

Hall, John und MacFarlan, Tim, 2015, „Humanity washed ashore: Outpouring of grief continues for Syrian toddler Aylan, three, after images of his dead body on a Turkish shoreline shocked the world“, Mail Online, 4. September 2015. Online verfügbar: http://www.dailymail.co.uk/news/article-3222829/Outpouring-grief-continues-images-Syrian-toddler-Aylan-Kurdi-s-dead-body-Turkey.html. (Stand: 28.08.2017)

Hare, Kristen, 2015, Front page of the day: ‘Somebody’s child’ (WARNING, DISTURBING IMAGE), Poynter 3. September 2015. Online verfügbar: http://www.poynter.org/2015/front-page-of-the-day-somebodys-child-warning-disturbing-image/371092/ (Stand 28.08.2017)

Kurdi, Fatima, 2015a, Statement from Fatima Kurdi on syrian refugee family members. Veröffentlicht auf der Facebookseite In Memory of the Kurdi Family“ am 4. September 2015. Online verfügbar: https://www.facebook.com/helpoursyrianrefugees/posts/677788339025476 Stand 28.08.2017)

Kurdi, Fatima, 2015b, Lasst den Tod von Alan nicht umsonst sein, Tagesspiegel am 17. September 2015. Online verfügbar: http://www.tagesspiegel.de/politik/tante-des-toten-jungen-lasst-den-tod-von-alan-nicht-umsonst-sein/12329408.html (Stand 28.08.2017)

Ryan, Holly, 2015, #KiyiyaVuranInsanlik: Unpacking Artistic Responses to the Aylan Kurdi Images. S. 44-45, in: Farida Vis und Olga Goriunova (Hg.): The Iconic Image on Social Media: A Rapid Research Response to the Death of Aylan Kurdi. Online Publikation: http://research.gold.ac.uk/14624/1/KURDI%20REPORT.pdf (Stand 28.08.2017)

Shifman, Limor, 2014, Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter. Berlin. Suhrkamp Verlag.

Stalder, Felix, 2016, Kultur der Digitalität. Berlin. Suhrkamp Verlag.

Sykora, Katharina, 2015, Die Tode der Fotografie. II. Tod, Theorie und Fotokunst. München/Paderborn. Wilhelm Fink Verlag.

Vis, Farida, 2015, Examining the hundred most shared images of Aylan Kurdi on Twitter. S.37–30, in: Farida Vis und Olga Goriunova (Hg.): The Iconic Image on Social Media: A Rapid Research Response to the Death of Aylan Kurdi. Online Publikation: http://research.gold.ac.uk/14624/1/KURDI%20REPORT.pdf (Stand 28.08.2017)

Wardle, Claire, 2015, Journalism and death on the social web: the case of Aylan Kurdi. S. 64–67, in: Farida Vis und Olga Goriunova (Hg.): The Iconic Image on Social Media: A Rapid Research Response to the Death of Aylan Kurdi. Online Publikation: http://research.gold.ac.uk/14624/1/KURDI%20REPORT.pdf (Stand 28.08.2017)

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  1. Virtuelle Welten – Soziale Räume
    Gwendolin Eckert (2023)
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    DOI: 10.30820/2752-2245-2023-1-29

  2. A cultura dos memes: aspectos sociológicos e dimensões políticas de um fenômeno do mundo digital
    Vicktor Chagas (2020)
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    DOI: 10.7476/9786556301785.0002

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2017-05-01

Akzeptiert

2017-12-01

Veröffentlicht

2018-03-01