#selberdenken.
Die Artikulation von Systemmisstrauen und die Beanspruchung epistemischer Autonomie in der Corona-Krise
DOI:
https://doi.org/10.15460/kommges.2022.23.1.1051Schlagworte:
Aufklärung, Corona-Skeptizismus, Evidenzpraktiken, Hashtag, Hermeneutik, Soziale Medien, Systemmisstrauen, WissenschaftRedaktion und Begutachtung
Abstract
Soziale Medien stellen wichtige Bühnen für zeitgenössische Konflikte um Wissen und Wahrheit dar. Der Artikel widmet sich vor diesem Hintergrund dem Gebrauch des Hashtags #selberdenken auf Twitter. Mittels einer quantitativen Datenanalyse wird zunächst die Konjunktur der Verwendung des Hashtags nachgezeichnet. Eine anschließende hermeneutische Sequenzanalyse zeigt, wie in seinem Gebrauch ein Anspruch auf epistemische Autonomie zum Ausdruck gebracht wird: Allein die eigenen Erfahrungen, Interpretationen und Quellen gelten als vertrauenswürdig. Dies korrespondiert mit einem grundlegenden Misstrauen in die von den Massenmedien konstruierten Realitäten und einer Trivialisierung von Erkenntnisprozessen. Die Untersuchung leistet einen Beitrag zum Verständnis der kommunikativen Mikrostrukturen mediatisierter Wissenskonflikte und der Rolle, die ein öffentlich kommunizierter Skeptizismus in ihnen spielt.
1 Einleitung
Im gesellschaftlichen Umgang mit COVID-19 zeigt sich, dass die politischen Auseinandersetzungen unserer Zeit auch und gerade die Form epistemischer Konflikte annehmen können – also Konflikte darüber, wer das bessere Wissen besitzt, wie die Grenzen von Wissen und Nicht-Wissen gezogen werden und welche Akteur:innen und Institutionen in welchen Konstellationen Wahrheitsansprüche erheben können (Bogner, 2021, S. 18). Die sozialwissenschaftliche Reflexion der öffentlichen Verhandlung der Corona-Krise zeichnete sich gerade zu Beginn der Pandemie vor allem durch theoretische und gesellschaftsdiagnostische Beiträge aus (Dörre, 2020; Keitel, Volkmer & Werner, 2020). Später traten Untersuchungen zu den politischen Haltungen und weltanschaulichen Hintergründen von Kritiker:innen der staatlichen Deutungen und Maßnahmen hinzu (Frei & Nachtwey, 2021; Frei, Schäfer & Nachtwey, 2021). In ihrer empirischen Untersuchung der Proteste gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen kommen Frei & Nachtwey (2021) zu dem Schluss, dass sich trotz aller politischen und normativen Heterogenität sowie der inhaltlichen Diffusität der Kritik einige verbindende Merkmale der Corona-Protestbewegung finden lassen. Deren Kritik könne im Anschluss an Boltanski (2010) als Form der Herrschaftskritik interpretiert werden, in der sich ein grundsätzliches Misstrauen gegen etablierte Institutionen öffentlich artikuliere. Der als einseitig und partikular gedeuteten Realität der Institutionen stelle die Corona-Protestbewegung eine alternative Konstruktion der Wirklichkeit gegenüber. Im Zentrum der Kritik stünden dabei das politische System sowie das System der Massenmedien. Die moderne Wissenschaft werde hingegen nicht grundsätzlich kritisiert. Stattdessen gingen die Maßnahmen-Kritiker:innen davon aus, dass die Wissenschaft von Politik und Massenmedien verzerrt dargestellt wird. In ihrer Kritik würden sich die Kritiker:innen damit selbst wissenschaftsförmig positionieren und in die Rolle aufklärender Expert:innen schlüpfen (Frei et al., 2021, S. 257f.). Dabei bestehe in dieser Protestbewegung zumindest eine „Anlage zum verschwörungstheoretischen Denken“ (Frei et al., 2021, S. 253)1 Die Kritiker:innen bezögen sich auf wissenschaftliche Werte und Normen, um diese letztlich zu unterminieren (ebd. S. 26f.).
Zeitgenössische Formen politisch-epistemischer Kritik haben auch und gerade eine mediale Dimension (Bucher & Duckwitz, 2005). Medien liefern Bühnen für Protest und Kritik, sie geben Akteur:innen die Möglichkeit, Publika zu adressieren und eröffnen oder blockieren Wege der Anschlusskommunikation. So wie Bühnenarchitekturen ihren Aufführungen einen spezifischen Rahmen verleihen, begünstigen, prägen und formen mediale Infrastrukturen die Modi der Kommunikation, die sich auf ihnen abspielen (Dolata & Schrape, 2014). Dass gerade soziale Medien verschwörungstheoretische Kommunikationsstile befördern können, ist ein Gemeinplatz zeitgenössischer Diagnosen zur digitalen Gesellschaft geworden. Bereits vor 25 Jahren, also noch vor der prominenten Diskussion um Echokammern und Filterblasen (Pariser, 2011),2 wies Josef Wehner auf subkutane Nebenfolgen interaktiver Medien hin. Massenmedien würden die „Aufmerksamkeit einer unbegrenzten Zahl von Rezipienten auf eine eng begrenzte Zahl von Aussagen“ (Wehner, 1997, S. 101) lenken, so die Selektivität ihrer Themenwahl latent halten und gerade dadurch den Anschein von Verallgemeinerungsfähigkeit generieren. Mit den Partizipationsmöglichkeiten des Internets hingegen träte die Selektivität der Themenwahl nun selbst in den Vordergrund öffentlicher Kommunikation und damit würde die „Realität der Massenmedien“ (Luhmann, 1996) in ihrer Kontingenz sichtbar (Wehner, 1997, S. 103). Daraus leitet Wehner die Diagnose ab, dass interaktive Medien zum einen eine Fragmentierung des Öffentlichen befördern würden. Zum anderen böten sie durch Generalisierung des Skeptizismus und der erleichterten Anschlussfähigkeit für Heterodoxien auch Räume für Verschwörungsmythen aller Art. „Ihre Botschaft ist die Differenz zwischen der ‚Scheinwirklichkeit’, wie sie vor allem durch die Massenpresse erzeugt wird, und der „realen Wirklichkeit“, die sich hinter offiziellen Darstellungen und Verlautbarungen verbirgt” (Wehner, 1997, S. 109).3 Wehner nahm damit die heute populäre Diagnose vorweg, dass soziale Medien Wegbereiter eines post-faktischen Zeitalters seien, indem sie ‚alternative Fakten’ als user-generated content öffentlich kommunizierbar und anschlussfähig machen.
Aber auch jenseits solch breiter Zeitdiagnosen werden soziale Medien zunehmend als Herausforderung für die Kommunikation glaubwürdigen Wissens begriffen (acatech, 2017; Gierth & Bromme, 2020; Könneker, 2020; Weingart & Guenther, 2016) da sie einen Raum zur Kommunikation unautorisierter Beobachtungen bieten (Brüggemann, Lörcher & Walter, 2020, S. 8) oder sogar ganz grundsätzlich verunklaren, wer überhaupt im Namen der Wissenschaft sprechen darf (Wenninger, 2019). Auch neuere Studien, die spezifisch auf die pandemische Situation abzielen, bestätigen einerseits die wichtige Rolle sozialer Medien als Vermittlungsinstanz pandemiebezogener Informationen, weisen aber andererseits darauf hin, dass gerade zu COVID-19 Desinformationen und Verschwörungstheorien florieren. „[S]ocial media has a crucial role in people's perception of disease exposure, resultant decision making, and risk behaviours. As information on social media is generated by users, such information can be subjective or inaccurate, and frequently includes misinformation and conspiracy theories“ (Tsao et al., 2021, S. 1).
Gleichwohl liegen bislang wenige Untersuchungen vor, die empirisch zeigen, wie der Corona-Skeptizismus sich auf sozialen Medien eigentlich kommunikativ konkret vollzieht. So argumentiert Kumkar (2022), dass ‚alternative Fakten’ weniger in ihrer inhaltlichen Architektur und umso mehr in ihrer kommunikativen Dimension untersucht werden sollten. Er betrachtet die Inanspruchnahme alternativer Fakten als kommunikative Strategie, die in spezifischer Weise in einen gesellschaftlichen Diskurs interveniert. Mit dem Verweis auf alternative Fakten wird etwas kommunikativ performiert, was aber empirisch noch unzureichend verstanden ist: „Denn auch wenn die Veröffentlichungen zu alternativen Fakten inzwischen kaum noch zu überschauen sind, wissen wir bisher erstaunlich wenig darüber, was alternative Fakten in ihren jeweiligen kommunikativen Kontexten eigentlich machen. Genauer, wie setzt man sie eigentlich, ganz pragmatisch, als kommunikative Schachzüge im Spiel der gesellschaftlichen Debatte ein?“ (Kumkar, 2022, S. 17f.).
Hier setzt unser Beitrag an. Er ergänzt die bisherigen sozialwissenschaftlichen Reflexionen und Beobachtungen durch einen Zugang, der die mediatisierten Kommunikationsstrukturen des Corona-Skeptizismus in den Blick nimmt. Wir rekonstruieren mithilfe einer hermeneutischen Sequenzanalyse4 die Artikulation des Corona-Skeptizismus am Fall des sozialen Netzwerkes Twitter. Uns geht es dabei um eine Untersuchung der „Mikrostrukturen“ (Bora & Münte, 2012) konkret kommunizierten Systemmisstrauens. Die diesbezüglichen Kommunikationsstrukturen werden im Folgenden anhand der Analyse des Hashtags #selberdenken sowie ausgewählter Tweets, die ihn verwenden, rekonstruiert.
Wir werden dabei zeigen, dass in den von uns untersuchten Tweets ein Misstrauen in institutionelle Wissenssysteme zum Ausdruck kommt. Als Alternative zu einem „Systemvertrauen“ (Luhmann, 2014) in organisierte und kollektive Prozesse der Wissensproduktionen artikuliert sich im #selberdenken ein des-organisiertes und individualistisches Modell des Skeptizismus, das ‚Aufklärung’ nutzt, um ein Vertrauen in die eigenen Sinne und die je subjektiven Erkenntnismöglichkeiten zu propagieren.
2 Der Hashtag #selberdenken
Hashtags (markiert mit dem Symbol #) finden seit mehreren Jahren auf Social-Media-Plattformen Verwendung, um eigene Beiträge zu verschlagworten. Der Begriff bezeichnet sowohl das Symbol selbst als auch das Wort, das mit demselben versehen wird. Dabei verbindet der Hashtag zwei historische Funktionen von Schlagworten: der Organisation von Wissen und der wiedererkennbaren Zuspitzung von Themen im öffentlichen Diskurs. Die erste Verwendungspraxis geht auf Bibliothekar:innen und Wissenschaftler:innen zurück, die zweite findet sich im Journalismus, der Werbung und der Politik. Es waren im 20. Jahrhundert also vornehmlich professionelle Gruppen und gesellschaftliche Eliten, die Schlagworte benutzten. Die Verwendung von Hashtags in sozialen Medien popularisiert die Praxis der Verschlagwortung. Die Möglichkeit, das #-Symbol unmittelbar vor ein Wort zu platzieren, verwandelt potenziell jedes Wort in ein Schlagwort. Es gibt dabei keine normativen Vorgaben zum richtigen Gebrauch von Hashtags. Vielmehr begründet die Verwendung des Symbols entweder den Versuch, ein neues Thema zu besetzten oder aber es markiert die Zugehörigkeit eines Beitrags zu einem bereits bestehenden Diskurs (Bernard, 2018).
Um unseren Gegenstand zu kontextualisieren, wollen wir zunächst die quantitative Verbreitung des Hashtags #selberdenken5 und seiner Beziehung zu anderen Hashtags aufzeigen. Mit dieser empirischen Analyse wollen wir zeigen, wie der Hashtag vor und während der Corona-Pandemie von User:innen auf der Social-Media-Plattform Twitter eingesetzt wird. Daran lässt sich ablesen, mit welchen thematischen Bezügen der Hashtag zusammen auftritt und ob es im Laufe der Corona-Krise eine Veränderung gegeben hat.
2.1 Die Twitter-Karriere des Hashtags #selberdenken
Der Hashtag ‚selberdenken’ taucht auf Twitter in deutschsprachigen Tweets erstmalig am 18. März 2009 auf. Im Folgenden werden Ergebnisse einer quantitativen Berechnung von textuellen Daten vorgestellt und interpretiert, die zum einen den gesamten Corona-Zeitraum bis einschließlich 27. April 2022 und, zum anderen, einen Zeitraum von zehn Jahren vor Corona umfassen.
Die zur Analyse vorliegenden Tweets wurden mithilfe der Twitter API (Application Programming Interface) von Twitter extrahiert. Die Filterkriterien waren der Hashtag #selberdenken als Muster in all seinen Schreibvarianten6, die Zeiträume und die deutsche Sprache.
Abbildung 1 zeigt die 30 am häufigst genannten Hashtags im Datensatz vom 18.03.2009 bis zum 30.12.2019. Dieser Datensatz ist über einen sehr viel längeren Zeitraum weniger als halb so groß, wie der der Corona-Pandemie. Entfernt man nicht verfügbare Accounts und Retweets, die selbst keinen Hashtag ‚selberdenken’ enthalten, verbleiben von den ursprünglich 668 noch 568 Tweets. Der #selberdenken befindet sich 569 Mal im Datensatz – da ein Tweet den #selberdenken doppelt verwendet. Damit entsteht ein weiter Abstand zum darauffolgenden #augenauf, welcher 33 Mal vorkommt.
Mit Hinblick auf die ersten Einträge im Datensatz und auf die Abbildung 1 scheint von Beginn an eine politische Färbung des #selberdenken erkennbar zu werden. Dies bestätigt sich mit den Hashtags #afd, #piraten, #politik, #btw17 (Bundestagswahl 2017), #piratenpartei oder #noafd. Auch medienbezogene Thematiken schienen bereits über den der Pandemie vorangegangenen Zeitraum wichtig gewesen zu sein. So treten hier #meinungsfreiheit, #zensur, #tvboykott auf.
Des Weiteren kann eine thematische Nähe zum Thema ‚Denken’ (#gedanken, #denken, #nachdenken) ausgemacht werden als auch zu grundsätzlichen politischen Werten wie #demokratie oder #freiheit. Zumindest vier Mal erscheint der Aufruf nach #alternativen. Somit scheint der Hashtag #selberdenken bereits politisch vorgeprägt gewesen zu sein, jedoch keineswegs mit gesundheitlichen oder politisch klar konturierten Positionen. Denn mit Hashtag-Verknüpfungen werden dem ‚Selberdenken’ durch #noafd oder #piraten zwei entgegengesetzte Positionen im Spektrum des deutschen Parteiensystems angefügt.
Viele der in Kombination mit dem #selberdenken verwendeten Hashtags würden allerdings bereits im Zeitraum von 2009 bis 2019 zu Themen der COVID-19 Pandemie passen, wie beispielsweise: #augenauf, #afd, #meinungsfreiheit, #tvboykott, #freiheit, #aufwachen, #usa oder #alternativen. Dennoch ist das Spektrum der verknüpften Hashtags heterogener, positiver und noch gesellschaftlich anschlussfähiger, das heißt die Hashtag-Verbindungen rahmen eine breitere Adressierbarkeit von Themen. Dazu passt auch, dass der Hashtag #selberdenken häufig alleine auftritt. Dies ist in 297 Tweets im Zeitraum vor COVID-19 der Fall. Über die logische Schlussfolgerung hinaus – #selberdenken war das Suchkriterium – zeichnet sich dadurch ab, dass das ‚Selberdenken’ relativ unabhängig von anderen Themengebieten verwendet wird.