"Internet in Nairobi, Kenia - Medienaneignung als Konstruktion" von Johanna Rieß
Eine Rezension von Tilo Grätz
DOI:
https://doi.org/10.15460/kommges.2020.21.1.622Schlagworte:
Afrika, Medienaneignung, Kenia, RezensionRedaktion und Begutachtung
Abstract
Dies ist eine Rezension über das Buch “Internet in Nairobi, Kenia - Medienaneignung als Konstruktion” von Johanna Rieß, erschienen im Transcript Verlag, 2019, 318 Seiten, ISBN: 978-3-8376-4684-9.
Rezension
Johanna Rieß legt mit ihrer Studie eine hervorragende, auf intensiven Feldforschungen basierende Arbeit zu Intercafés und insbesondere ihren Nutzern in Kenia vor. Sie verbindet in ihrer Analyse auf beachtenswerte Art und Weise relevante theoretische Ansätze unterschiedlicher Disziplinen und findet einen originären Zugang zum Feld der vielfältigen Nutzung digitaler Medien im Alltag. Damit ermöglicht sie einen differenzierten Blick auf mediale Praktiken im subsaharischen Afrika jenseits einseitiger Perspektiven, die entweder nur den sogenannten „digital divide“ beklagen oder politischen Internetaktivismus auf dem Subkontinent feiern. Die Arbeit wurde im Original als Promotionsschrift an der Universität Bayreuth angefertigt.
Das Buch basiert auf Feldforschungen (10 Monate), verteilt auf drei Aufenthalte in Kenia zwischen 2012 und 2015, die unter anderem in drei ausgewählten Internetcafés in Nairobi besonders intensiv durchgeführt wurden. Hier wurden auch Einzelstudien auf Basis von problemzentrierten Interviews mit unterschiedlichen Internetnutzern angefertigt. Weiterhin hat Rieß ausgedehnte Recherchen zur Entwicklung des Internets in Kenia durchgeführt, die auch IKT-Experten und Medienunternehmer als Interviewpartner sowie die Auswertung von zahlreichen Presseartikeln und Mediendaten einschlossen. Technische Entwicklungen vor allem auf dem Gebiet mobiler digitaler und sozialer Medien haben seit Abschluss der empirischen Arbeiten zu dieser Studie sicherlich bestimmte Mediennutzungsformen verändert, die jedoch vor allem aufgrund ihrer Methodik und theoretischen Ansätze aktuelle bleibt.
Die Arbeit hat mit der Einleitung und der Schlussbetrachtung acht Kapitel. Anschließend an die Einleitung erfolgt in den zwei weiteren Abschnitten die Darlegung des theoretischen Rahmens, hier vor allem geprägt von den Perspektiven der Mediennutzungsforschung, und des methodischen Kontextes der Arbeit. Das vierte Kapitel ist einer sehr umfangreichen Analyse der Entwicklung der Internetstruktur in Kenia bis heute gewidmet, die sie entlang der Theorie der sozialen Konstruktion von Technologien (SCOT), die sich hierfür in besonderer Weise eignet, entwickelt. In diesem Abschnitt zeichnet sie nicht nur die technische Entfaltung, sondern auch medienpolitische und gesellschaftliche Aushandlung rund um die Einführung und Etablierung des Internets in Kenia nach. Sie verweist auf die anfänglichen Widerstände, die inzwischen aber eher techno-utopischen Visionen weichen. Die geschichtliche Rekonstruktion verdeutlicht zugleich, dass Internet-Nutzer in keiner Phase passiv, sondern als aktive Mitgestalter bzw. Ko-Produzenten der Internet-Einführung in Kenia agieren. Im fünften Kapitel wiederum rekonstruiert Rieß die Perspektive der medialen Aneignung, aufgefächert in vier Dimensionen, die sie dann auf die Internet- und Computeraneignung in Kenia bezieht. Einen besonderen Akzent legt sie dabei auf die Erweiterung des Betrachtungsrahmen um die biographische Dimension der medialen Aneignung. Rieß nutzt diese Dimensionen instrumentell zur Datenstrukturierung und stellt anschließend im sechsten Abschnitt drei Internetcafés in Nairobi als Fallbeispiele, insbesondere ihre Lage, Besitzer und Stamm-Nutzer vor. Es handelt sich um drei sehr unterschiedliche Typen von Internetcafés in verschiedenen Stadtteilen, deren Ausstattung und Nutzerstruktur stark von den jeweiligen städtischen Umgebungen geprägt sind. Internetcafés betrachtet sie dabei nicht nur als technische Infrastrukturen, sondern entlang der Löw’schen Raumtheorie als besondere soziale Räume, die zugleich Möglichkeiten, aber auch Ungleichheiten erzeugen. Ungleichheiten des Internetzugangs werden hier nicht vorausgesetzt, sondern als empirische Größe betrachtet, z.B. in der Wahl der Internetcafés durch Nutzer, entsprechend ihrer Lage und ihrer Funktionen, werden diese zu Markern sozialer Ungleichheit. Im siebten und umfangreichsten Kapitel widmet sich Riess schließlich verschiedenen digitalen Modi sowie nutzergruppenübergreifenden Tendenzen der Aneignung des Internets in Kenia. Ausgehend vom Begriff der biographischen Prägung der Internetnutzung (in starker Anlehnung an die kulturwissenschaftliche Medien-Forschung) sowie der etablierten Forschung zu medialer Aneignung unterscheidet Rieß dabei einen politischen Modus, den Wirtschaftsmodus, einen moralischen Modus, den „Fake-Modus“, einen Bildungsmodus sowie den globalen Modus der Internetnutzug. Sie versteht diese Modi als Nutzungsweisen, die auch kombiniert oder verändert werden können. Die Bedeutung der einzelnen digitalen Modi erschließt sich genauer, wenn man die Fallbeispiele betrachtet. Der politische Modus beschreibt z.B. ein intensives Interesse der entsprechenden Nutzer am Verlauf aktueller Ereignisse wie den Präsidentschaftswahlen 2013, aber auch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und dem Staat, die u.a. über Facebook widergespiegelt wurden. Im Wirtschaftsmodus geht es primär um Gelegenheiten, Geld zu verdienen, Jobs zu finden, während im Fakten-Modus die Nutzer z.B. Anonymität nutzen, um Informationen zu bekommen. Der Fake-Modus schließt u.a. Phänomene wie Internetbetrag mit ein, während der moralische Modus sich auf den Konsum von (offiziell tabuisierter) Pornographie, aber auch das mögliche Ausleben von (ebenfalls tabuisierter) Homosexualität bezieht. Der globale Modus umfasst die Internetnutzung zur Erfüllung von Migrationswünschen, aber auch die aktive Pflege von Kontakten zu Nutzern weltweit. Verschiedene digitale Modi können z.T. aber auch gleichzeitig, in unterschiedlicher Ausprägung, bei einzelnen Nutzern beobachtet werden. Daher fasst Rieß diese zu vier übergreifenden Dimensionen, wie z.B. dem Wunsch nach professioneller Selbstverbesserung, oder jenem der Zerstreuung, zusammen, die jeweils von unterschiedlichen Haltungen und Intentionen beeinflusst werden. Über diese Modi hinaus beschreibt sie zudem nutzergruppenübergreifende Tendenzen der Aneignung des Internets, die weitere Differenzierungen ermöglich, und sehr von aktuellen medialen Entwicklungen im Lande geprägt sind. Diese Modi der Internet-Nutzung stellen, so mein Eindruck, eine Verbindung von Praktiken und Motiven einzelner Nutzer dar, die zum einen sehr stark mit der persönlichen Identität der Protagonisten und ihren persönlichen Zielen verbunden sind, aber zugleich auf ähnliche Konstellationen übertragbar ist. Bemerkenswertes Ergebnis der Studie ist, dass in diesem Zusammenhang soziale und bildungsrelevante Dimensionen das Nutzerverhalten und -typen beeinflussen, ethnische oder politische Affinitäten hingegen aber offenbar eine untergeordnete Rolle spielen.
Rieß vermeidet konsequent statische Perspektiven auf Aneignungsweisen und betrachtet aktuelle Nutzungsweisen in ihrer stetigen Veränderung. Sie zielt dabei nicht primär auf die Mensch-Technik Interaktion, sondern biographische Veränderung der Nutzer- Konstruktionen der Medien und deren Inhalt. Inhaltliche als technologische Aneignung des Internets werden zudem immer gleichgewichtig analysiert. Die Arbeit widmet sich darüber hinaus noch zahlreichen anderen Aspekten der Internetnutzung in Kenia und verbindet auf originelle Weise Perspektiven der SKA, der Raumtheorie, der kulturwissenschaftlichen Medienforschung, der Medienwissenschaften und STS.
Vielleicht hätte der Vergleich der Ergebnisse mit anderen Studien zu Nutzerverhalten und Intercafés in Afrika und darüber hinaus der in der Zusammenfassung noch stringenter ausfallen können, um u.U. Ähnlichkeiten oder Unterschiede besser herauszuarbeiten (die frühen Arbeiten von Miller /Slater sowie jüngere wie jene von Burrel z.B. wurden in der Einführung der Arbeit ja auch erwähnt). Sehr angenehm ist aber wiederum, dass in der Gestaltung der Arbeit die theoriebezogene Diskussion der Ergebnisse der empirischen Arbeit vorwiegend in den einzelnen Kapiteln, und nicht getrennt davon z.B. in Einleitung und Schluss erfolgt. Sehr gut sind die ausführlichen Biografien der Nutzer, sowie die Graphiken gelungen, die das theoretische Fundament veranschaulichen. Hingegen geraten die Fußnoten mitunter zu umfangreich. Kritische Anmerkungen dieser Art schmälern aber nicht die methodisch beispielhafte Analyse, argumentative Stringenz und Darstellung neuer Erkenntnisse. Das Buch kann nicht nur Fachkolleg_Innen aus dem Bereich der Medienethnologie, Medienwissenschaften und sozialwissenschaftlichen Technikforschung empfohlen werden, sondern auch Praktiker_Innen aus dem Bereich der Medienentwicklungszusammenarbeit.
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