(H)acktivismus und Partizipation? Zur politischen Dimension des Digitalen

  • Marion Näser-Lather Philipps-Universität Marburg
  • Barbara Frischling Karl-Franzens-Universität Graz

DOI:

https://doi.org/10.15460/kommges.2018.19.3.610

Schlagworte:

Engagement, politischer Einfluss, politische Partizipation, Digitale Medien, Online-Medien, Diskurs

Abstract

Diese Sonderausgabe thematisiert das Verhältnis von digitalen Medienpraktiken, Aktivismus und politischer Partizipation und stellt, ausgehend von den kontroversen Diskussionen zur Bedeutung digitaler Medieninfrastrukturen für Aktivismus und Partizipation, die Frage nach der Bedeutung des Digitalen für das Politische.1
Das Politische entsteht nach Hannah Arendt zwischen den Menschen (Arendt 2010: 11) und, wie Johanna Rolshoven schließt, folglich aus dem Handeln und der Kommunikation (Rolshoven 2018: 23). Mit Slavoy Žižek (2001), Chantal Mouffe (2007) sowie Ulrich Bröckling und Robert Feustel (2012: 8-11) kann man argumentieren, dass sich in politischen Feldern gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über Verfahrensweisen und Normen vollziehen, die durch Dynamiken der Macht, Elemente des Konfliktes und Antagonismen geprägt sind (vgl. Näser-Lather 2017: 1).
Wie spielen sich solche Aushandlungsprozesse ab, wenn für die Kommunikation und partizipatives Handeln digitale Infrastrukturen genutzt werden? Nehmen die digitalen Medien Einfluss auf Diskurse beziehungsweise deren Rahmenbedingungen, und tun sie dies in einer anderen Art und Weise als analoge Medien? Und wenn ja, geschieht dies in einer befördernden oder hemmenden Form? Sind digitale Medien geeignet beziehungsweise entsprechen sie gar in besonderem Maße den Erfordernissen politischer Aktion, politischen Austauschs und Bedürfnissen nach Partizipation?

1 Digitale Medien zwischen Ermächtigung und Manipulation

Vor allem in der Frühphase des Internets, aber auch noch in den letzten Jahren lässt sich hinsichtlich der Erforschung etwaiger Effekte digitaler Infrastrukturen auf Politisches eine Dichotomie techno-optimistischer vs. -pessimistischer Erklärungsmuster ausmachen (vgl. Näser-Lather 2016: 1f.). Zum einen wurden die zur Partizipation ermächtigenden und demokratisierenden Eigenschaften neuer Medien herausgestellt (siehe z.B. Meikle 2002; Benkler 2006; Cardoso/Pereira Neto 2008; Shirky 2008; Hands 2010; Castells 2012) sowie die progressiven, die Erreichung von Zielen politischer Bewegungen erleichternden Potentiale betont (siehe beispielsweise Kirkpatrick 2010; Castells 2012). Nach der Jahrtausendwende wurde vor allem Anwendungen und Diensten, die chiffreartig mit Oberbegriffen wie „soziale Medien“, „Social Web“ oder „Web 2.0“ bezeichnet werden (vgl. Schmidt 2013: 15f), unter anderem aufgrund des hohen Anteils an User Generated Content partizipatorisches Potenzial zugeschrieben. So verweisen zum Beispiel Howard/ Hussain (2013) auf die große Bedeutung von Social Media, wenn es darum geht Revolutionen anzustoßen. Digitale Medien können eine Intensivierung des Informationsaustauschs und eine Beschleunigung der Kommunikation bewirken (vgl. Benkler 2006; Shirky 2008: 175; Miller 2012), ihr Einsatz ermöglicht eine vergrößerte Reichweite protestrelevanter Informationen und eine verbesserte Ressourcenmobilisierung (vgl. Schönberger 2004: 84-86; 2005: 22f., 87; Van De Donk et al. 2008), beispielsweise durch die mobile Kommunikation (vgl. Hands 2011: 21; Baym 2015:11; vgl. Näser-Lather 2017: 13).

Andere Autor*innen verwiesen dagegen auf die potentielle Beschränkung von Handlungsfreiheit durch den Einfluss digitaler Infrastrukturen auf Modi und Inhalte aktivistischen Engagements; zudem wurden die Gefahren von Überwachung, Unterdrückung und Manipulation aufgezeigt, wie sie insbesondere von kommerziellen Kommunikationsmedien ausgingen (z.B. Gamson 2003; Galloway/Thacker 2007; Morozov 2011; Dencik/Leistert 2015; vgl. Näser-Lather 2015: 1f.).

Neben diesen beiden Diskurssträngen, die digitalen Medien spezifische Wirkungen attestierten, existiert aber auch eine vorsichtigere Bewertung von sozialen Medien in einer Reihe mit analogen Kommunikations- und Infrastrukturwerkzeugen (vgl. Näser-Lather 2017: 7). Jenseits extremer Vorstellungen hinsichtlich der Wirkmächtigkeit „neuer Medien“ verorten sich diejenigen, die zwar Effekte von Internettechnologien konstatieren, aber die Auffassung vertreten, dass dies keine neuen Theorieansätze erfordere (z.B. Earl et al. 2010: 427). Daniel Miller folgert aus seiner Untersuchung der Facebooknutzung in Trinidad, Facebook sei „schlicht ein weiteres Medium des politischen Handelns“ (Miller 2012: 173; vgl. Näser-Lather 2017: 7).

Welchen Einfluss haben nun digitale Medieninfrastrukturen auf politische Diskurse und Praktiken, und inwieweit wirken sie sich auf die agency der User*innen aus?

Kritiker*innen wie Oliver Leistert haben die Ausbeutung und Manipulation der User*innen durch kommerzielle soziale Netzwerke herausgestellt und daraus deren Untauglichkeit für Protestbewegungen abgeleitet (vgl. Näser-Lather 2017: 7), unter anderem auch aufgrund von Personalisierungsalgorithmen, die nicht allen Mitgliedern einer Bewegung alle aktivismusrelevanten Informationen weiterleiten. Gefahr gehe zudem von Hacker*innen, aber auch von Bots aus, künstlichen Intelligenzen, die Diskussionen unterwandern, stören oder gar eigene Fakeproteste starteten (Leistert 2013, 2015).

Ist politische Urteilskraft durch Online-Medien angesichts der Manipulationen, wie sie etwa der Skandal um Cambridge Analytica offenbart hat, bei dem Nutzer*innen-Daten zur Beeinflussung des Wähler*innenverhaltens instrumentalisiert wurden (Tagesspiegel 2018), angesichts der Vermessung und Beeinflussung der User*innen mittels „big data“ und mangelhafter Netzwerkneutralität möglich? Kann andererseits Zensur bzw. bewusste Lenkung die Lösung sein? Auf Algorithmen basierende Zensur scheint zumindest nicht zielführend etwa, wenn Facebook das berühmte Foto des im Krieg flüchtenden vietnamesischen Mädchens löscht, weil dieses nackt ist (Küchemann 2016), aber fake news und rechte Propaganda nicht erkennt oder Stefanie Sargnagels künstlerische Interventionen gegen Rechtspopulismus und Sexismus als „gewalttätige Inhalte“ sperrte – auf Initiative rechtspopulistischer Nutzer*innen, die Sargnagels Facebookprofil meldeten (futurezone 2017).

Überlegungen zu einigen Aspekten dieser Problematik stellt Wolfgang Sützl in seinem Beitrag „Medien und Partizipation. Zwischen Distributionsapparat und partizipativer Propaganda“ an. Sützl fragt, inwieweit Partizipation, die sich nicht vereinnahmen und manipulieren lässt, sondern widerständig ist, überhaupt möglich ist. Dabei wird die Entwicklungsgeschichte der Theorien um Medien und Partizipation, ausgehend von Massenmedien und ihren als passiv gedachten Rezipient*innen bis hin zur active audience und zu medienaktivistischer Partizipation als Widerstand mittels des Web 2.0, dargestellt. Er weist darauf hin, dass Propaganda in diesem Kontext auch als Manipulation von User*innen gedacht werden kann, die genau auf dem ehemals Partizipationshoffnungen weckenden Prosumer-Modell aufsitzt, als „partizipative Propaganda“. Der Begriff der Partizipation sei kritisch neu zu denken, wenn „unter neoliberalen Voraussetzungen jede Form der Kommunikation zu Kapital werden“ könne. Sützl kommt zum Schluss, dass einer Instrumentalisierung von Partizipation für Propaganda nur durch ein „reverse engineering“ dominanter Technologien entgegengewirkt werden könne.

Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern digitale Infrastrukturen entgegen ihres intendierten Nutzens angeeignet werden können, inwiefern es also ein „außen“ neoliberaler Logiken und des Techno-Kapitalismus gibt (vgl. Näser-Lather 2017: 13). Mit Stefan Beck können wir auch im Hinblick auf digitale Medien von „Objektpotentialen“ sprechen, die „Handlungsumgebungen“, „Handlungszumutungen“ und „Handlungsbeschränkungen“ implizieren und andererseits mit „weichen, kulturellen Orientierungen, Dispositiven und Habitualisierungen“ verbunden sind (Beck 1997: 169). Nach Susan Leigh Star (1999) konstituieren Infrastrukturen die Praxen ihrer User*innen und den Möglichkeitsraum ihrer sozialen Interaktionsmodi und werden andererseits durch sie geformt. Zudem ist zu fragen, ob sich Bewegungen der Sogwirkung großer kommerzieller Anbieter mit geringer Partizipationsschwelle entziehen können. Viele Beispiele der Nutzung speziell von Facebook durch Aktivist*innen scheinen darauf hinzudeuten, dass dies mehrheitlich nicht der Fall ist (vgl. z.B. Della Porta/Mattoni 2015: 44; vgl. Näser-Lather 2017: 200).

Die Ambivalenz von Empowerment und Manipulation wird am Beispiel von Open Knowledge Labs und Open Data-Aktivismus deutlich. Fiona Krakenbürger adressierte dies bei ihrem Vortrag im Kontext der Tagung „(H)acktivismus und Partizipation? Zur politischen Dimension des Digitalen“ (2016, Marburg/Lahn) aus aktivistischer Perspektive. Anhand der Open-Knowledge-Labs, bei denen sich Gruppen von Interessierten engagieren, die die Digitalisierung für das Gemeinwohl nutzen, zeigte sie zum einen Möglichkeiten des Empowerment auf, indem den Bürger*innen Daten zur Verfügung gestellt werden, die den Stadtraum oder bestimmte Verwaltungsaktivitäten betreffen. Durch Initiativen dieser Art soll „data literacy“ befördert werden, d.h. die Fähigkeit, sinnhafte Informationen aus solchen Daten herauszulesen. Krakenbürger machte anhand der Verzahnung von Open-Source-Bewegung und Regierungsinstitutionen (kommunalen Verwaltungen etc.) auf Ambivalenzen von subversivem Handeln und Kooperation aufmerksam, die sich aus solchen Praktiken ergeben. Indem so einerseits eine größere Transparenz im Hinblick auf Regierungshandeln ermöglicht wird, eröffnet dies andererseits Potentiale der Manipulation.

Bietet nun „Hacking“ eine Möglichkeit der politischen Partizipation jenseits von Manipulation? Diese Frage stand im Zentrum von Christopher Keltys Keynote der Tagung „(H)ackivismus und Partizipation?“. „Hacking“ könne, so Kelty, die politische Partizipation einschränken oder ermöglichen. Dass die euphorische Verwendung des Begriffs „Hacken“ zu kurz greift, verdeutlichte er anhand der Vielschichtigkeit von Partizipation. Politische Partizipation habe sich zur Kooptation entwickelt. Kelty wies auf unterschiedliche Entwicklungen innerhalb der Hacker-Bewegungen hin: zum einen auf die Verschiebung zur Kooptation, indem Hackerwissen (medial) verfügbar gemacht wird, zum anderen auf Forderungen nach einer stärkeren politischen und ethischen Regelgeleitetheit des Hackens und nach Institutionalisierung, die wiederum die Kritik nach sich zögen, der Kooptation zu unterliegen.

2 Protesthandeln und Körper

Ein anderer umstrittener Aspekt des Verhältnisses von digitalen Medien und Partizipation ist die Bedeutung des Körpers für politisches Handeln (vgl. Näser-Lather 2017: 7). Jeffrey Juris (2008) und Dieter Haller (2011) heben die Bedeutung analoger zwischenmenschlicher Kon­takte für Protestbewegungen hervor. Gadi Wolfsfeld, Elad Segev und Tamir Sheafer (2013: 182) betonen in Bezug auf den arabischen Frühling die Rolle der politischen, sozialen und ökonomischen Umgebung. Paolo Gerbaudo (2012) nimmt eine vermittelnde Position der Interaktion von digitalen Medien und Protesthandeln ein: er zeigt in seinem Vergleich von Occupy, Indignados und den Protesten in Kairo, dass sowohl sozialen wie kulturellen Einflüssen Bedeutung zukommt.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern die Miteinbeziehung des Körpers, die physische Präsenz, die Voraussetzung für Partizipation und Protest sei. So kommt Michael Ayers (2003) zum Schluss, dass sich eine kollektive Identität bei einer rein online-basierten feministischen Community nicht ausbilde. Auch andere Forschungen weisen auf die Relevanz lokaler face-to-face-Netzwerke für die Mobilisierung hin (siehe z.B. Melucci 1996: 292, zitiert nach Gerbaudo 2012: 30). Untersuchungen über zeitgenössische Proteste, insbesondere den Arabischen Frühling, betonen, dass sich diese Mobilisierungen auf vorher existierenden sozialen Bindungen abstützten (siehe beispielsweise Wolfsfeld/Segev/Sheafer 2013). Nach Arthur Edwards (2008) bringt der Gebrauch digitaler Medieninfrastrukturen Mobilisierungen hervor, die durch hohen Aktivismus, temporären Bestand und geringe Kohäsion gekennzeichnet seien (vgl auch Kevin McDonald 2002). Zudem argumentieren einige Autor*innen wie Evgeny Morozov (2009; 2011: 218-20), der so genannte „slacktivism“ – Aktivismus, der sich auf Online-Engagement beschränkt und beispielsweise im Unterzeichnen von Petitionen besteht – erzeuge die Illusion politischer Wirkmächtigkeit und führe dazu, dass weniger Menschen sich auch auf der Straße engagieren würden. Zudem lenke er von den Formen des Aktivismus ab, die benötigt würden, um wirkliche Veränderungen zu bewirken. Der Erfolg von Online-Petitionen, Shitstorms, dem Kapern von Webseiten, Mailbombing und Hacktivismus scheint der These des „slacktivism“ allerdings zu widersprechen (vgl. Näser-Lather 2017: 13f.).

Die Frage nach der Bedeutung der physischen Präsenz für Aktivismus stellt sich auch Susanne Maurer in ihrem Beitrag „Die ‘Bildung des politischen Subjekts’ im Netz? Oder: Gesellschaftskritik und Selbst-Transformation – digital/analog“ aus philosophischer und bildungstheoretischer Sicht. Maurer fragt, inwiefern Prozesse der (politischen) Bildung im Sinne von Selbst-Transformation im Erfahrungs- und Wissens-Austausch, im in-Beziehung-Treten mit anderen Personen und der Welt möglich sind und inwiefern Leiblichkeit und Präsenz dafür erforderlich sind. Darüber hinaus thematisiert sie die Bedeutung des (Hinter-)Fragens und Anzweifelns für politische Bildung. Sie nennt verkörperlichtes Wissen und Erfahrung als wesentliche Bestandteile von Bildungsprozessen; die „konkrete Präsenz“, des „körperlich-leiblichen Erscheinens im Hier und Jetzt“ sieht sie als Voraussetzung für das Erleben unvergesslicher „Schlüsselmomente“ im aktivistischen Handeln. Maurer stellt im Anschluss daran die Frage, ob diese Form der Präsenz die Voraussetzung für längerfristiges politisches Engagement und das Übernehmen von politischer Verantwortung sei, und illustriert dies anhand der Bewegung der „Precarias a la deriva“ (2011).

Dass solche „Schlüsselmomente“ jedoch durchaus auch online möglich sind, zeigen die Forschungen von Marion Hamm, die über Erfahrungen einer intensiven Immersion und emotionalen Nähe zu den anderen Aktivist*innen bei ihrer sich ausschließlich online vollziehenden Teilnahme am G8-Gipfel in Evian berichtet (Hamm 2003: 38f.). Dagegen kann, wie Marion Näser-Lather anhand der italienischen Frauenbewegung „Se Non Ora Quando“ zeigt, die physische Begegnung als qualitativ unterschiedlich zur Online-Kommunikation wahrgenommen und daher auch als essentiell für die aktivistische Arbeit und den politischen Austausch betrachtet werden. Dies ist im Fall von „Se Non Ora Quando“ auf den Einfluss von Interaktionstraditionen und „feeling rules“ der italienischen Frauenbewegung der 1970er Jahre zurückzuführen. Daher präferieren die Aktivistinnen face-to-face-Kommunikation und Protestpraktiken, die auf physischer Präsenz basieren; online-Medien werden nur dann für wichtige Entscheidungen und Diskussionen genutzt, wenn ihr Gebrauch auf bereits bestehenden offline-Beziehungen aufbaut (vgl. Näser-Lather 2016, 2017). Die Frage der Notwendigkeit von physischer Präsenz für längerfristiges politisches Engagement scheint somit sehr stark von sozialisationsbedingten Einstellungen und Erfahrungsgewohnheiten der jeweiligen aktivistischen Gruppe abhängig zu sein.

Mit der Frage der Selbst-Bildung im Internet setzt sich auch der Beitrag von Roman Knipping-Sorokin und Theresa Stumpf „Radikal Online – Das Internet und die Radikalisierung von Jugendlichen. Eine Metaanalyse zum Forschungsfeld“ auseinander. Knipping-Sorokin und Stumpf stellen in ihrer Metaanalyse den deutschen und englischsprachigen Forschungsstand zu diesem Thema dar. Der Beitrag verweist auf mehrere Forschungsdesiderate und damit auf die Wichtigkeit dieses Forschungsfeldes: So bilden Studien zu „Linksradikalisierung“ ein Desiderat, denn die meisten Studien widmen sich dem Rechtsradikalismus und dschihadistischer Radikalisierung. Darüber hinaus fehlen Studien, die sich der Nutzer*innenseite widmen, insbesondere zu weiblichen Jugendlichen. Die Autor*innen fordern eine differenzierte Auseinandersetzung mit Islamistischen Strömungen sowie die Gegenüberstellung verschiedener Gruppierungen und Ideologien. Knipping-Sorokin und Stumpf konstatieren eine besondere Anfälligkeit von sich in der Selbstfindungsphase befindlichen Jugendlichen für Radikalisierung. Die noch im Wachsen begriffene Lebenserfahrung würde die Einordnung von Informationen aus dem Internet erschweren. Zur Frage, ob das Internet für die Radikalisierung ausreicht oder auch offline-Begegnungen erforderlich sind, liegen unterschiedliche Ergebnisse vor (vgl. z.B. Bakker 2006). Laut einer Studie der RAND-Corporation aus dem Jahr 2013 ist eine beschleunigende und ermöglichende Wirkung des Internets zu konstatieren: Jugendliche können leicht „vom passiven Rezipienten zum aktiv Beitragenden“ werden.

3 Mediale Vermittlung und die Dynamiken des Politischen

Inwiefern unterstützen Medien nun Partizipation (vgl. van Aelst/Walgrave 2008)? Sind digitale Medien nur Kommunikationswerkzeuge (siehe Miller 2012), oder verändern sie die Qualität von Interaktionen und sozialen Dynamiken (vgl. Hamm 2013)?

Dass die mediale Umgebung die Sichtbarkeit einer Community und auch das Nutzer*innenverhalten verändert, zeigt der Beitrag von Urmila Goel, der den Umzug des Internetportals Indernet.de auf Facebook und seine Folgen beschreibt. Goel schildert, wie das Internetportal Indernet.de, das an Menschen aus oder mit Bezug zu Indien adressiert war, durch den Wechsel auf Facebook stark an Bedeutung verlor. Der prozessuale Zugang verdeutlicht, wie sich die Redaktion zu einer „ethnopolitischen Unternehmerin“ (vgl. Brubaker 2004) entwickelte und als solche „soziale, politische und/oder ökonomische Ziele verfolgte, die sie ethnisch definieren“ so Goel. Basierend auf einer empirischen ethnographischen Studie wird nachgezeichnet, wie die Redaktion von Indernet.de mit technischen Entwicklungen, geänderten Bedürfnissen und Schwankungen der Zugriffszahlen umging.

Als politische Felder können, wie die Anthropology of Policy gezeigt hat, auch Zusammenhänge gefasst werden, „in deren Rahmen Räume geordnet, Ressourcen verteilt, Menschen kategorisiert und kulturelle Bedeutungen produziert werden“ (Vonderau/Adam 2014: 9f.). Den demokratisierenden Potentialen des Feldes der digitalen Selbstvermessung widmet sich Barbara Frischlings Beitrag „‘What’s your Pace?‘ Gedanken zum Forschen mit und über digitale(r) Selbstvermessung“. Frischling analysiert, inwiefern Normen und Vorstellungen von technischer Seite vorgegeben sind. In diesem Kontext stellt Frischling die Frage, inwiefern digitale Selbstvermessung durch die Ermöglichung des Zugangs zu Daten über den eigenen Körper und die eigene Gesundheit demokratisierend wirken kann. Der Beitrag beschreibt, wie die Verzahnung von einer alltäglichen Nähe mobiler digitaler Geräte mit der Erwartungshaltung, dass digitale Selbstvermessungsinstrumente von den Menschen zu nutzen seien, das Versprechen bestärken würde „in der Zukunft liegende Gesundheitsrisiken durch Modifikation des – zuvor vermessenen Verhaltens – eliminieren zu können“. Die Verantwortung dafür liege aufgrund der technischen Verfügbarkeit der Selbstvermessungs-Instrumente bei den Nutzer*innen. Darüber hinaus ist der Beitrag im Sinne eines methodischen „Hacking“ zu verstehen, als ein Ausloten der Möglichkeiten ethnographischer Forschung in einem Feld, in dessen Mittelpunkt die Wissensproduktion über den eigenen Alltag steht.

Die verschiedenen Beiträge dieser Sonderausgabe zeigen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven nicht nur die weitreichenden Konsequenzen des Einsatzes digitaler Medien und Räume, sondern eröffnen auch zahlreiche Fragen für zukünftige Forschungen. So ist die Entwicklungsgeschwindigkeit digitaler Technik als ein Aspekt gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu betrachten, die in unterschiedlichsten Lebensbereichen sichtbar werden. Darüber hinaus wandelt sich auch der Begriff des Politischen, nicht nur durch „slacktivism“, sondern auch durch Wahlkampfmaßnahmen in „sozialen Medien“ oder politische Diskussionen online. Die zunehmende Verwendung von Sensoren und die damit einhergehenden Datenschutzfragen zei­gen zugleich, dass Öffentliches und Privates sich im Bereich des Politischen kaum mehr trennen lassen. Ein Ausloten des Verhältnisses von digitalen Medien und politischem Handeln wird daher auch für die zukünftige kulturwissenschaftliche Erforschung der Dynamiken von Akti­vismus und Partizipation gefordert sein.

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Interessenskonfliktstatement

Die Autor:innen erklären, dass ihre Forschung ohne kommerzielle oder finanzielle Beziehungen durchgeführt wurde, die als potentielle Interessenskonflikte ausgelegt werden können.


  1. Dies ist auch ein Forschungsgegenstand der zum Zeitpunkt der Drucklegung bereits eingereichten, aber noch nicht veröffentlichten Habilitationsschrift von Marion Näser-Lather, die diese Frage anhand der italienischen Frauenbewegung „Se Non Ora Quando?“ untersucht (Näser-Lather 2017) und zu diesem Themenkomplex 2016 eine Tagung in Marburg organisiert hat („(H)acktivismus und Partizipation? Zur politischen Dimension des Digitalen“, Arbeitstagung der dgv-Kommission Digitalisierung im Alltag, 29.09. - 01.10.2016), aus der einige der Beiträge dieser Sonderausgabe hervorgegangen sind. Teile des vorliegenden Editorials sind inhaltlich aus dem Einleitungskapitel der Habilitationsschrift von Marion Näser-Lather übernommen (s. jeweils Näser-Lather 2017).↩︎

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2018-03-01

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2018-10-01

Veröffentlicht

2018-11-01