Simon Egbert & Matthias Leese: Criminal Futures

Predictive Policing and Everyday Police Work

  • Nikolaus Poechhacker ORCID logo Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

DOI:

https://doi.org/10.15460/kommges.2022.23.1.1023

Schlagworte:

predictive policing, digital infrastructures, algorithms, review, police, ethnography, digitization

Redaktion und Begutachtung

  • Nils Zurawski ORCID logo Universität Hamburg

Abstract

Egbert & Leese (2021) liefern mit ihrer umfassenden Studie über Predictive Policing einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über die fortschreitende Digitalisierung und Algorithmisierung der Polizeiarbeit. Ziel des Buches ist es, Predictive Policing als eine Reihe zusammenhängender sozio-technischer Praktiken zu verstehen. Die Autoren diskutieren umfangreiches empirisches Material im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und versuchen, Erkenntnisse aus der (kritischen) Kriminologie, der Soziologie und den Wissenschafts- und Technologiestudien (STS) miteinander zu verbinden. Während des gesamten Buches folgen die Autoren dem Fluss der Daten und den verschiedenen Akteuren durch den Prozess der Entwicklung und Durchführung von Predictive Policing. Durch eine konsequente Darstellung der unterschiedlichen Übersetzungsschritte stellen die Autoren klar dar, wie prädiktive Polizeiarbeit die Praxis der Polizeiarbeit verändert. Insbesondere der vorgeschlagene STS-Ansatz ist sehr überzeugend und fügt dem Feld eine neue und wichtige Perspektive hinzu.

1 Rezension: Simon Egbert und Matthias Leese. Criminal Futures. Predictive Policing and Everyday Police Work. Routledge, 2021), 231 Seiten

Egbert & Leese (2021) liefern mit ihrer umfassenden Studie über Predictive Policing einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über die fortschreitende Digitalisierung und Algorithmisierung der Polizeiarbeit. Ziel des Buches ist es, Predictive Policing als eine Reihe von miteinander verbundenen soziotechnischen Praktiken zu verstehen. Das umfangreiche Datenmaterial wurde in Deutschland und der Schweiz gesammelt und umfasst ethnographische Feldforschung, Interviews und Dokumentenanalyse. Die vorgestellten Argumente stützen sich somit auf eine breite und reichhaltige Sammlung qualitativer Daten, die die Autoren im Buch ausführlich diskutieren. Diese umfangreiche Sammlung von Erkenntnissen ist eine der Hauptstärken des Buches, da die Autoren im Zentrum des Geschehens standen und - wie Latour in seinen Schriften betont - den Akteur:innen folgten. Latour ist überhaupt ein wichtiger Bezugspunkt, da das gesammelte Material im Kontext der Akteur-Netzwerk Theorie (ANT) diskutiert wird und die Autoren versuchen, Erkenntnisse aus der (kritischen) Kriminologie, der Soziologie und den Science and Technology Studies (STS) zu verbinden. Mit diesem Ansatz wollen Egbert und Leese rekonstruieren, wie prädiktive Polizeiarbeit als institutionalisierte und organisierte Praxis durch Technologie, Praktiker:innen und Diskurse ko-konstituiert wird.

Der Aufbau des Buches folgt dabei einer Kette von Übersetzungen: die Kapitel folgen einander als logische Abfolge von der Entwicklung des Algorithmus bis zu seiner Einbindung in die sozio-technischen Strukturen der Polizeiorganisationen und des breiteren gesellschaftlichen Kontexts im Allgemeinen. Diese Struktur ist überzeugend und ermöglicht es den Leser:innen, die Entstehung des algorithmischen Systems zu verfolgen, wobei jeder Schritt neue Einsichten vermittelt, die an das bisher Besprochene anknüpfen.

Während das erste Kapitel eine allgemeine Einführung in das Buch bietet, beleuchtet das zweite Kapitel das Phänomen aus kriminologischer Perspektive, indem es die Entwicklung der prädiktiven Polizeiarbeit in den breiteren Kontext des "preventive turns“ (Crawford & Evans, 2017) und des allgemeinen Wandels hin zu einer erkenntnisgestützten Polizeiarbeit einordnet. Die Autoren zeigen, dass das Aufkommen der prädiktiven Polizeiarbeit als Technologie die Praktiken oder die Kultur der Polizeiarbeit nicht radikal verändert. Vielmehr ist die Nutzung solcher Instrumente das Ergebnis einer fortlaufenden Konvergenz von Innovationen und Entwicklungen in diesem Bereich. Die Autoren argumentieren, folglich "[that] Predictive Policing can be understood as yet another step in this quite long lineage of anticipatory and managerial developments “ (Egbert & Leese, 2021, S. 23).

Im dritten Kapitel wird das Phänomen Predictive Policing aus der Perspektive der Soziologie und STS betrachtet. Die Autoren zeigen überzeugend auf, dass die Einführung von Technologien in neue Kontexte ein komplexes, chaotisches und oft unvorhersehbares Unterfangen ist. Infolgedessen impliziert der technologische Wandel fast immer auch einen organisatorischen Wandel, der während der technologischen Entwicklung nicht vorhergesehen worden ist. An dieser Stelle führen die Autoren Konzepte der STS ein, genauer gesagt Verweise auf ethnomethodologische Arbeiten (Lynch, 2008; Suchman, 2006) und ANT (Callon, 1986; Latour, 2005). Dieser Perspektivenwechsel verlagert die Aufmerksamkeit von den Praktiken der Polizeiarbeit der Straße auf die vorausschauende Polizeiarbeit und vergleichbare Anwendungen als inhärente Elemente der Institution Polizei.

Kapitel vier befasst sich mit dem Problem der Datenproduktion für prädiktive Systeme im Kontext der vorausschauenden Polizeiarbeit. Dem Gedanken "raw data is an oxymoron“ (Gitelman, 2013) folgend, erklären die Autoren, welche Art von Daten verwendet wird und welche Probleme auftreten, wenn analoge soziale Phänomene in algorithmisch lesbare Symbole übersetzt werden. Sie beschreiben auch die Verbindung zwischen den (wahrgenommenen) Praktiken der kriminellen Subjekte und dem Gesamtsystem der vorausschauenden Polizeiarbeit. Aus einer solchen Perspektive wird abweichendes Verhalten nicht nur überwacht, sondern ist für das System der vorausschauenden Polizeiarbeit ko-konstitutiv. Das Kapitel schlägt eine interessante und oft wenig beachtete Brücke zwischen verschiedenen Kollektiven, indem es Daten als ein Produkt der Koordination zwischen asynchronen Praktiken versteht.

In Kapitel fünf wird dieses Argument aufgegriffen und weiterentwickelt. Anstatt Fragen zu stellen, wie Daten produziert werden, beziehen sich die Autoren auf Erkenntnisse aus der Mensch-Computer-Interaktion und benachbarten Bereichen, um die vielfältigen Interaktionen zwischen dem algorithmischen Output und den Betreibern von prädiktiven Polizeisystemen näher zu betrachten. Entgegen dem Mythos, dass prädiktive Analysen vollständig automatisiert sind (siehe etwa Rouvroy, 2013), rekonstruieren sie die vielen verschiedenen Aushandlungen und (Neu-)Bewertungen der algorithmischen Ergebnisse im Sinne einer Algorithmus-Mensch-Konfiguration. Die häufig geäußerte Kritik aufgreifend, dass algorithmische Systeme die Bedeutung von Kontextinformationen vernachlässigen, zeigt das Kapitel, wie das Wissen von Domänenexperten nach den Berechnungen in das Bild eingefügt wird.

Eines der markantesten Merkmale der vorausschauenden Polizeiarbeit sind die vom System erstellten Risk Maps. In Kapitel sechs wird untersucht, wie Predictive Policing-Anwendungen Daten in visuelle Darstellungen von Risiko umwandeln. In ihrer Beschreibung der Übersetzung von Kriminalitätsdaten in Karten verbinden die Autoren Erkenntnisse aus ANT und STS mit langjährigen Fragen der Kriminologie und der Soziologie der Polizeiarbeit. Sie konzentrieren sich darauf, wie Karten in verschiedenen Phasen erstellt werden und wie jeder Moment der Übersetzung das projizierte Kriminalitätsrisiko als Tatsache verfestigt, "[where] visual representation allows the police to make the future, while not yet here, tangible and relatable“ (Egbert & Leese, 2021, S. 129). Die Untersuchung eröffnet mehrere Perspektiven auf das Thema, da die Autoren das Artefakt der Risk Map bis hin zum Kontext, in dem es verwendet wird, verfolgen. Somit ist dieses Kapitel der Teil des Buches, der vielleicht am deutlichsten Konzepte und Theorien aus verschiedenen Disziplinen miteinander verbindet und das produktive Potenzial einer solchen interdisziplinären Perspektive bei der Untersuchung von Phänomenen wie der vorausschauenden Polizeiarbeit aufzeigt.

In Kapitel sieben geht es dann sozusagen wieder auf die Straße. Das Buch veranschaulicht, wie prädiktive Polizeiarbeit, obwohl sie oft als störende Technologie für die Polizeiarbeit verstanden wird, sich in eine lange Geschichte von Patrouillen auf der Straße als Teil der täglichen Polizeiarbeit einfügt. In diesem Kapitel werden die subtileren Veränderungen in der Art und Weise dargestellt, wie die Polizeiarbeit unter den Bedingungen von vorausschauenden Polizeisystemen durchgeführt wird. Wiederum unter Anwendung von ANT-Sensibilitäten rekonstruieren die Autoren auch, wie das gesamte System der vorausschauenden Polizeiarbeit davon abhängt, dass die Polizeikräfte "da draußen“ die von dem algorithmischen System erstellten Risikokarten und Vorhersagen nutzen. Ohne eine erfolgreiche Integration in die Praxis der Beamten verliert das System seine Fähigkeit, irgendeine Form von Handlungsfähigkeit zu entfalten. Die Autoren kontextualisieren diese Einschreibungen in einer größeren Debatte über wissenschaftliche Rationalität vs. gewonnene Erfahrung und wie diese in eine Kultur der Polizeiarbeit einfließen.

Kapitel acht befasst sich mit einer Frage, die gestellt wird, seit Predictive Policing in den Fokus des öffentlichen Diskurses gerückt ist: Funktioniert es? Predictive Policing selbst ist mit vielen Unsicherheiten und Schwierigkeiten beim Nachweis kausaler Effekte konfrontiert, was häufig auf den komplexen Aufbau des empirischen Feldes und das Fehlen einer ceteris paribus-artigen Situation für diese Studien zurückzuführen ist. Das Kapitel nimmt jedoch eine interessante Wendung, indem es nicht fragt, ob prädiktive Polizeiarbeit funktioniert, sondern vielmehr, wie das empirische Feld (d.h. die Polizei) den Erfolg definiert und wie sie ihn erklärt. Der Rückgriff auf eine feldspezifische Formulierung des Begriffs "Erfolg“ ermöglicht vielleicht keinen breiteren Diskurs über den Nutzen der vorausschauenden Polizeiarbeit als solches - was, wie dargelegt, ein komplexes Unterfangen darstellt -, zeigt aber die Herausforderungen, die diese Technologie für die Polizeikräfte darstellt. So wurden - vielleicht überraschend - Effekte wie die technologische und organisatorische Integration von Polizeidienststellen, die Vorhersagen überhaupt erst möglich machen, als Erfolg gewertet.

Das letzte Kapitel, das ich hier bespreche, Kapitel neun, erörtert normative und ethische Herausforderungen, die durch Predictive Policing entstehen. Klassische Beispiele, insbesondere für algorithmische Systeme, sind Fairness, Rechenschaftspflicht und Transparenz. Diese Themen sind auch aus anderen Bereichen bekannt, und es lohnt sich zwar, sie aufzugreifen, aber die Auswahl an Themen ist kaum überraschend. Allerdings wechselt dieser Teil auch die Perspektive und fragt nicht nur, wie Predictive Policing die polizeiliche Praxis verändert, sondern auch, wie etablierte polizeiliche Praktiken die Datenproduktion und damit die Berechnungen von Predictive Policing-Anwendungen verändern. Mit diesem Ansatz schließt das Buch den Kreislauf der Übersetzungsprozesse und bringt uns zurück zu Kapitel vier, aber mit einer anderen Perspektive. Eine Perspektive, welche die Wertgeladenheit der Datenproduktion und die Stabilisierung dieser Wertungen im System des Predictive Policing näher in den Blick nimmt.

Die verschiedenen Stationen und Standorte in dem Buch vermitteln ein abgerundetes und umfassendes Bild der vorausschauenden Polizeiarbeit. Das Buch bietet somit eine empirisch reichhaltige und fundierte Analyse dessen, was vorausschauende Polizeiarbeit auf der Ebene der tatsächlichen Praktiken bedeutet. Durch eine genaue Darstellung der einzelnen Übersetzungsschritte und dem konsequenten Folgen der Akteur:innen zeigen die Autoren deutlich auf, wie Predictive Policing Anwendungen die Praxis der Polizeiarbeit verändert, aber auch, wie die technische Anwendung durch die praktische Arbeit situiert wird. Das Buch verbindet auch die verschiedenen disziplinären Perspektiven der (kritischen) Kriminologie, Soziologie und STS. Insbesondere der vorgeschlagene STS-Ansatz ist sehr überzeugend und fügt dem Feld eine neue und wichtige Perspektive hinzu. Die Verwendung dieser Perspektive führt jedoch zu einem kleinen Problem. Da die verwendeten STS-Konzepte zentrale Elemente der Argumentation des Buches darstellen, wäre es sinnvoll gewesen, die Diskussion über die Übersetzungsprozesse und den theoretischen Hintergrund etwas umfassender zu gestalten. Dies hätte Leser:innen, die mit STS nicht vertraut sind, eine bessere Grundlage geboten.

Dies ist jedoch nur ein kleines Problem in einem ansonsten gelungenen Buch, das verschiedene Denkrichtungen miteinander verbindet, um das Phänomen der vorausschauenden Polizeiarbeit zu untersuchen. Es ist bei weitem die umfassendste und bestinformierte Studie über Predictive Policing, die mir bisher begegnet ist, und sie stellt einen nuancierten Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über diese algorithmischen Technologien dar. Die Autoren machen deutlich, dass wir Predictive Policing als ein komplexes und zusammenhängendes System soziotechnischer Praktiken verstehen sollten. Dies gilt auch, wenn sie über die umfassenderen sozialen Auswirkungen einer Technologie nachdenken, die hauptsächlich präventiv durch Polizeipräsenz wirkt. Predictive Policing ist ein System, das die Symptome behandelt, aber die Ursachen außer Acht lässt. Für Letzteres wäre eine soziotechnische Theoretisierung der politischen Ökonomie von Kriminalität notwendig, die ein Algorithmus einfach nicht leisten kann. Man fühlt sich sofort an Tony Blairs Slogan "tough on crime, tough on the causes of crime“ erinnert und daran, wie der zweite Teil dieses Satzes nur allzu oft verloren geht (Lea, 2015). Insofern stellt dieses Buch einen wichtigen und dringend benötigten Beitrag zur Diskussion dar und kann auch als willkommener Ausgangspunkt für weitere Studien und Diskussionen über vorausschauende Polizeiarbeit verstanden werden.

Interessenskonfliktstatement

Die Autor*innen erklären, dass ihre Forschung ohne kommerzielle oder finanzielle Beziehungen durchgeführt wurde, die als potentielle Interessenskonflikte ausgelegt werden können.

Literatur

Callon, M. (1986). Some Elements of a Sociology of Translation. Domestication of the Scallops and the Fishermen of St. Brieuc Bay. In J. Law (Hrsg.), Power, action and belief: a new sociology of knowledge? (S. 196–233). London: Routledge & Kegan Paul.

Crawford, A. & Evans, K. (2017). Crime Prevention and Community Safety. In A. Liebling, S. Maruna & L. McAra (Hrsg.), The Oxford Handbook of Criminology (S. 797–824). Oxford University Press. Zugriff am 19.2.2021. Verfügbar unter: https://livrepository.liverpool.ac.uk/3012373

Egbert, S. & Leese, M. (2021). Criminal Futures : Predictive Policing and Everyday Police Work. Routledge. https://doi.org/10.4324/9780429328732

Gitelman, L. (Hrsg.). (2013). "Raw data“ is an oxymoron. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press.

Latour, B. (2005). Reassembling the social: an introduction to actor-network-theory. Oxford; New York: Oxford University Press.

Lea, J. (2015). Jock Young and the Development of Left Realist Criminology. Critical Criminology, 23(2), 165–177. https://doi.org/10.1007/s10612-015-9273-8

Lynch. (2008). Scientific Practice Ordinary Action: Ethnomethodology and Social Studies of Science (Revised.). Cambridge England; New York: Cambridge University Press. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1017/CBO9780511625473

Rouvroy, A. (2013). The end(s) of critique: data-behaviourism vs. due-process. In M. Hildebrandt & K.D. Vries (Hrsg.), Privacy, Due Process and the Computational Turn: The Philosophy of Law Meets the Philosophy of Technology (1. Auflage, S. 143–168). Abingdon, Oxon, England ; New York: Taylor & Francis Ltd.

Suchman, L. (2006). Human-Machine Reconfigurations: Plans and Situated Actions (2 edition.). Cambridge ; New York: Cambridge University Press. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1017/CBO9780511808418

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2022-09-27

Akzeptiert

2022-10-10

Veröffentlicht

2022-10-18