Christian Fuchs: Verschwörungstheorien in der Pandemie.

Wie über Covid-19 im Internet kommuniziert wurde.

  • Nils Zurawski ORCID logo Universität Hamburg

DOI:

https://doi.org/10.15460/kommges.2022.23.1.1009

Schlagworte:

Covid-19, Corona, Rezension, Verschwörungtheorie, Pandemie

Redaktion und Begutachtung

  • Jan-Hinrik Schmidt ORCID logo Leibniz-Institut für Medienforschung / Hans-Bredow-Institut

1 Rezension: Christian Fuchs: Verschwörungstheorien in der Pandemie. Wie über Covid-19 im Internet kommuniziert wurde. 2022, München:UVK (UTB). 211 Seiten

Verschwörungstheorien oder, wie es seit einiger Zeit heißt, Verschwörungserzählungen erfreuen sich nicht erst seit dem Internet, schon gar nicht erst seit Corona einer bestimmten, bisweilen fragwürdigen Beliebtheit. Grundsätzlich sind sie wohl auch immer ein Anzeichen für unsichere oder unüberschaubare Zeiten, so dass ihr Vorhandensein historisch nachzuweisen ist. Die Mär von (massenhaften) Kindsentführungen oder der jüdischen Brunnenvergiftung im Mittelalter sind aus heutiger Sicht ganz klar in diese Ecke zu verordnen. Ob dieses auch von Erzählungen über Kannibalen (vgl. z.B. Frank, 1987), Monster und fiktionale Wesen im Zuge der europäischen Entdeckungen in Südamerika oder Afrika so gesagt werden kann, oder ob diese einer anderen Kategorie von Wirklichkeitsverarbeitung angehören, ist offen, aber auch nicht wichtig. Denn letztlich geht es auch dabei darum, scheinbar unübersichtliche Wirklichkeiten einfach zu deuten, um mit ihnen klar zu kommen und im besten Fall Verantwortliche für eine wie auch immer gestaltete Misere zu identifizieren. In modernen Vor-Internet-Zeiten waren vor allem die Kennedy-Ermordung, die angeblich im Fernsehstudio inszenierte Mondlandung oder der Papstmord von 1978 gern gewählte Erzählungen, die sich auch einer gewissen popkulturellen Beliebtheit erfreut haben (und wahrscheinlich noch tun).

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Verschwörungstheorien ist dabei ein wiederkehrendes, wenn auch eher am Rande einzelner Disziplinen vorkommendes Phänomen. Als Motiv jedoch hat es einen festen Platz vor allen in den Sozial- und Geisteswissenschaften. So ist z.B. das Heft 124 des Kursbuches von 1996 diesem Thema gewidmet, hier wohl zum ersten Mal auch in der Verbindung mit dem Internet (siehe den Aufsatz „Das Internetz der Verschwörer“, in Freyermuth, Karsunke & Michel (1996)). Die seitdem vergangenen 26 Jahre haben beeindruckend gezeigt, was passiert, wenn eine Welt unüberschaubar groß, gleichzeitig vermeintlich nah zu einem kommt, quasi unter den Fingerspitzen liegt, aber eben noch nicht verstanden werden kann. Dass Bill Gates in der Corona-Krise zu einem der Hauptfiguren in den beliebtesten Verschwörungstheorien von Virus und Zwangsimpfungen, elektronischer Chipung und Weltherrschaft wurde, ist daher kein Zufall.

Dass man das Motiv der Verschwörung auch sinnvoll wissenschaftlich einsetzen kann haben zum Beispiel Frederic Jameson (1992) oder Luc Boltanski (2013) gezeigt. Jameson nutzt „Verschwörung“ als ein Motiv, einen Ansatz um den Spätkapitalismus als globales System zu beschreiben und in seiner Analyse zu zeigen, warum darin der Einzelne einem oft eben undurchschaubaren System gegenübersteht. Verschwörung ist für ihn Totalität und somit ein Erklärmodus, den er zur Analyse nutzt. Für Boltanski ist die Verschwörung (das Komplott), bei ihm auch häufig im Zusammenhang mit Paranoia aufgeführt, ein Element am Beginn der Moderne. Das sei, wie er zeigt, deutlich in der Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Kriminalliteratur ablesbar, z.B. in den Sherlock Holmes- oder Maigret-Romanen, denen er seine Analyse widmet.

In der Corona-Pandemie haben Verschwörungsmythen oder -erzählungen, wie diese Art von Komplexitätreduzierungsfiktionen nun richtigerweise genannt werden, eine neue Hochkonjunktur erfahren – wobei Fuchs weiterhin den Begriff der Theorie dafür verwendet. Christian Fuchs (2022) gibt mit seinem Buch eine sehr übersichtliche Einführung in die Kommunikation der auf Corona bezogenen Mythen im Internet. Nicht zuletzt die empirische Basis seiner eigenen Untersuchungen von Online-Inhalten macht das Buch sehr gut nachvollziehbar und bietet interessantes Anschauungsmaterial. Dazu kommt, dass die Kapitel, nicht untypisch für UTB-Bücher, kurze Abstracts vorweg gestellt bekommen haben, sowie jeweils eine Zusammenfassung in einer Schlussfolgerung enthalten, häufig auch mit übersichtlichen Aufzählungen zur Verdeutlichung der wichtigsten Punkte.

Wer die durchaus umfangreiche Publikationsliste des österreichischen Medien- und Kommunikationswissenschaftlers kennt, wird nicht überrascht sein, wenn er auch in diesem Band eine mehr oder weniger strikt marxistisch orientierte politökonomische Analyse bekommt, die sich mit dem Kapitalismus als hauptsächlichem Treiber moderner Krisen und somit auch den damit verbundenen Verschwörungstheorien intensiv auseinandersetzt. Dass der Sprach- und Analyseduktus an einigen Stellen etwas vereinfachend ausfällt (z.B. der einleitende Absatz zu Kap. 6.1), kann man in Kauf nehmen. Die Analyse, welche eine Reihe von Beispielen aufnimmt, die viele populäre und seit 2020 in der Presse und den sozialen Medien diskutierte Phänomene beleuchtet, macht das durchaus wett. Ob seine Schlussfolgerung zutrifft, dass „die Überwindung der Klassengesellschaft eine notwendige Bedingung für eine Welt ohne Ideologie und Verschwörungstheorien [sei]“, kann man gut diskutieren. Ich finde es etwas kurz gesprungen, vor allem weil Fuchs nicht ausführt, was noch dazukommen muss, wenn dieser Schritt erreicht ist. Was passiert dann? Wie sehen die Lebensrealitäten der Menschen dann aus, wie ihr Medienkonsum, was bedeutet das für eine globale Totalität, wie sie u.a. Jameson beschreibt, wie rationalisieren Menschen ihr Dasein in der Welt angesichts der dann immer noch bestehenden Tatsache, dass sie sich selbst verorten müssen, dabei aber eben nicht die ganze Welt kennen, wohl aber von ihr wissen? (vgl. hierzu auch Zurawski, 2014) Und genau diese Diskrepanz ist der Raum, der sich hervorragend mit Verschwörungsideologien füllen lässt – aber nicht zwangsläufig füllen muss. Fuchs Vorschlag ist eine Commontopia, „eine ‚potentielle‘ Zukunft der Kommunikation, der Medien, des Internets und der Gesellschaft“ (S. 189). Dieser Schluss ist eine interessante Form soziologischer Fiktion, die anregt weiterzudenken.

Mein Fazit: Christian Fuchs hat eine kompakte, gut zu lesende Analyse vorgelegt, die vor allem als Einstieg in das Thema sehr gelungen ist. Für diejenigen, die sich mit dem Thema ohnehin schon befassen, wird hier nicht viel Neues stehen, wobei die empirische Analyse durchaus einen Mehrwert hat. Die alleinige theoretische Einbettung in eine marxistisch-politökonomische Analyse lässt viele Fragen offen, insbesondere wenn man Verschwörungstheorien als kulturellen Ausdruck verstehen will, oder ihre Bedeutung für die Popkultur sowie deren Einfluss auf die Politik im Blick hat. Die Struktur des Buches ist gelungen und auch das hilft beim Verstehen und macht den Einstieg leicht. Insofern, empfehlenswert, vor allem als aktuelle Kommunikationsanalyse in einer noch nicht abgeschlossenen planetarischen Krise, die mit dem Ende von Corona nicht vorbei sein dürfte, wenn man annimmt, dass Corona etwas mit dem Umgang des Menschen mit seiner Umwelt zu tun hat.

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Interessenskonfliktstatement

Die Autor*innen erklären, dass ihre Forschung ohne kommerzielle oder finanzielle Beziehungen durchgeführt wurde, die als potentielle Interessenskonflikte ausgelegt werden können.

Literatur

Boltanski, L. (2013). Rätsel und Komplotte: Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft (1. Auflage). Berlin: Suhrkamp.

Frank, E. (1987). Sie fressen Menschen, wie ihr scheussliches Aussehen beweist... Kritische Überlegungen zu Zeugen und Quellen der Menschenfresserei. Authentizität und Betrug in der Ethnologie, 199–224.

Freyermuth, G. S., Karsunke, I. & Michel, K. M. (1996). Verschwörungstheorien, Kursbuch 124 (Kursbuch. - Hamburg : Kursbuch Kulturstiftung, 1965- ; ZDB-ID: 3287-6). Berlin: Rowohlt.

Fuchs, C. (2022). Verschwörungstheorien in der Pandemie: Wie über COVID-19 im Internet kommuniziert wird (Band 5796). UTB.

Jameson, F. (1992). The geopolitical aesthetic: cinema and space in the world system (1. publ.). Bloomington, Ind. [u.a.]: Indiana Univ. Press.

Zurawski, N. (2014). Raum–Weltbild–Kontrolle: Raumvorstellungen als Grundlage gesellschaftlicher Ordnung und ihrer Überwachung. Verlag Barbara Budrich.

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2022-09-05

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2022-09-07

Veröffentlicht

2022-09-12